NP Die Wahrheit hat viele Gesichter

Otto o.sell at telda.net
Fri Aug 10 07:34:19 CDT 2001


http://www2.tagesspiegel.de/archiv/2001/08/08/ak-ku-6611221.html

Die Wahrheit hat viele Gesichter
von Kerstin Decker

"Man kann Geschichte nicht moralisch begreifen. Moderne Demokratien, mit
ihrem moralisch-juristischen Blick von den Rechten des Einzelnen her haben
vielleicht nur einen Mangel: Sie besitzen keinen wirklich geschichtlichen
Sinn. Sie existieren autonom. Sie verstehen vor allem sich selbst - das
demokratisch Legitimierbare.

Geschichte aber ist die undemokratische Einrichtung schlechthin. Wenn unsere
Kinder heute im Geschichtsunterricht Briefe an die Stadt Aachen schreiben
mit der Frage, was Aachen denn wohl dazu bringe, den Karlspreis zu
verleihen, ob sie denn nicht wisse, dass Karl der Große ein großer
Völker-Unterdrücker und kein Demokrat war - dann ahnt man einiges von den
Aporien, die hier verborgen liegen. (...)

Jeder wusste damals, dass die DDR handeln musste, wollte sie sich als
eigenes Staatswesen behaupten. Und welcher Staat sieht dem eigenen Untergang
tatenlos zu? Das Nichtzusehen-Können definiert ihn als Staat. Genau als
solchen wollte ihn das Adenauer-Deutschland nicht anerkennen. Aber es wollte
auch Deutschlands kriegsbedingte neue Ostgrenze nicht anerkennen, die nun an
der Oder-Neiße verlief und es um ein Drittel kleiner machte. (...)

Für den Fall, dass die Russen Westberlin zur "freien Stadt" erklärt - und
damit die Kontrolle über alle Zugangswege nach Westberlin beansprucht -
hätten, behielten sich die Amerikaner, schon aufgrund ihrer damaligen
militärischen Überlegenheit, die Atombombe vor. Und signalisierten zugleich,
dass sie eine Selbstabschottung des Ostens dulden würden. Mit dem Mauerbau
reagierten die Russen auf die amerikanischen Bedingungen. Zur historischen
Wahrheit heute, nach vierzig Jahren, gehören diese Zusammenhänge. Nicht,
weil sie die Kommunisten nachträglich legitimieren. Aber weil sie zum -
begriffenen - Ende des Kalten Kriegs in den Köpfen gehören.

Die Mauer war das steingewordene Symbol der deutschen Nachkriegs-Aporie, des
Kalten Kriegs, und sie wurde das allen sichtbare Mahnmal des Scheiterns der
DDR. Denn erst nach 1961 bekam das Land Gelegenheit, ganz aus eigener Kraft
unterzugehen.

(...)

Die Demokratie macht uns nicht automatisch klüger, nur weil niemand mehr
unser Bewußtsein einzumauern versucht. Bewußtsein ohne Grenzen? Das wäre ein
anderer Name für Schwachsinn. Weil Denken sich an den Grenzen bildet, die es
überschreitet. Nur dürfen niemals Mauern daraus werden."







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