mddm (2): seafaring & insurances

lorentzen-nicklaus lorentzen-nicklaus at t-online.de
Sat Sep 22 07:03:49 CDT 2001



                                                   re: pp. 26-27 u.ö.

 "das zentrale entstehungs- und anwendungsfeld der ersten versicherungsverträge 
waren die unsicherheiten des handels und hier vor allem die risiken des 
seehandels. dass ausgerechnet der seehandel zum vorreiter der modernen 
versicherung wurde, liegt zunächst daran, dass er entwickelter war als der 
landhandel und sich insbesondere im laufe des 15. und 16. jahrhunderts in 
erstaunlichem maße ausweitete. mindestens ebenso wichtig ist jene tiefsitzende, 
symbolische überhöhung der unsicherheit des meeres, die dieses feld zum 
brennpunkt für unsicherheitsdiskurse hat werden lassen. wie hans blumenberg 
(1979) herausgearbeitet hat, galt die seefahrt seit jeher als eine 
'grenzverletzung' mit prekären folgen. schon in der antike erschien 'das meer 
als naturgegebene grenze des raumes menschlicher unternehmungen' und in seiner 
entgegensetzung zum land zugleich 'als sphäre der unberechenbarkeit, 
gesetzlosigkeit, orientierungslosigkeit' (blumenberg, 1979, 10). wer seefahrt 
treibt, also die vorgegebenen grenzen zu überschreiten versucht, lebt gefährlich 
und muss stets mit schiffbruch rechnen. auf der anderen seite - und dieser 
gedanke gewinnt mit der entstehung (früh)bürgerlicher 
vergesellschaftungszusammenhänge zunehmend an bedeutung - ist die abkehr von der 
festen ordnung des landes auch eine herausforderung. denn auf dem meer lassen 
sich die scheinbar naturgegebenen grenzen des menschlichen handlungsvermögens am 
ehesten und nachdrücklichsten erweitern; hier gelten nicht mehr die festen 
ständischen hierarchien, sondern allein die fähigkeit, durch eigene leistung und 
tapferkeit die feindlichen elemente zu bezwingen. (footnote 234: eine frühe 
literarische darstellung dieses aspekts findet man in shakespeares stück 'der 
sturm', 1611. hier scheucht der bootsmann angesichts des aufkommenden sturmes 
die adeligen passagiere ungeachtet ihres standes unter deck, und als diese 
protestieren und mehr respekt einfordern, erwidert er nur: 'was fragen die 
brausewinde nach dem namen könig? in die kajüte mit euch! still! stört uns 
nicht!' 1. akt, 1. szene). ~ die symbolische überhöhung des meeres als chiffre 
für unsicherheit allgemein und für risiken im speziellen lässt sich auch an 
anderen details studieren. (...) zwar ist mangels quellen keineswegs geklärt, ob 
der seetransport in empirischer hinsicht tatsächlich unsicherer war. aber 
angesichts der häufigen schiffbrüche und der probleme des kaperns erschien es 
den zeitgenossen als eine abenteuerliche sache, die leicht schiefgehen, aber bei 
einem glücklichen ausgang auch großen gewinn bringen konnte. diese prinzipielle 
ambivalenz brachte um 1380/1400 bereits geoffrey chaucer zum ausdruck, als er in 
den 'canterbury tales' einen kaufmann sich selbst wie folgt charakterisieren 
ließ:

         'us moste putte oure good in áventúre.
         a merchant, truly, may not ay endure,
         truste me wel in prosperitye,
         some thyme his good is throwned in the see,
         and some tyme commeth it sauf unto the londe.'

~ sofern der chaucersche händler nicht einfach ein glücksritter war, sondern 
unsicherheiten als risiken begriff, war er freilich schon früh bestrebt, seine 
aktivitäten abzusichern. dies geschah zunächst eher im kontext von gilden und 
anderen traditional orientierten solidargemeinschaften. ausgehend von den 
vorreitern in genua und palermo ende des 14. jahrhunderts, verbreitete sich die 
seeversicherung über spanien, frankreich, england und holland jedoch auch in den 
nordeuropäischen raum. sofern es noch keine verlässlichen erfahrungsgrundsätze 
für die risikobewertung gab, handelte es sich bei der seeversicherung trotz 
steigenden quantitativen umfangs freilich bis ins 18. jahrhundert hinein um 
'höchst spekulative' (borscheid/drees 1988, 3) gelegenheitsgeschäfte. keineswegs 
zufällig wurden diese gelegenheitsgeschäfte zunehmend von leuten getragen, die 
von der schiffahrt nicht unbedingt ahnung hatten, wohl aber über überschüssiges 
kapital verfügten. denn jenseits der ursprünglichen solidargemeinschaften ließen 
sich 'fachfremde' aufgrund ihres andersgearteten referenzrahmens weit leichter 
zur risikoübernahme oder (rück)versicherung bewegen. so verfügten sie nicht nur 
über kapital, sondern über eine soziale und sachliche distanz gegenüber den 
gefahren des konkreten falls, die es ermöglichte, in spekulativer absicht auf 
absicherungskonstruktionen einzugehen, die von den direkt beteiligten nicht 
unbedingt übernommen worden wären."

 ~~~ wolfgang bonß: vom risiko. unsicherheit und ungewissheit in der moderne. 
                          hamburger edition, 1995, pp. 159-163 ~~~ 


kfl                 




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