Am Anfang der Parabel

Otto ottosell at yahoo.de
Mon May 5 11:47:05 CDT 2003


Der Zorn der Dissidenz
Am Anfang der Parabel: Thomas Pynchon beschwört den Kampfgeist von George
Orwell

Um einen klassischen Fall von literarischem anger management geht es hier:
wie ein großer politischer Autor umgeht mit seinem Frust, seinem Ärger,
seinem Hass, seiner Verzweiflung. Um George Orwell geht es, der eben diese
emotionale Mischung entwickelte in den Dreißigern und Vierzigern des vorigen
Jahrhunderts, angesichts des Zustands des Sozialismus in der Welt. Als die
Sowjetunion von den Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus
abdriftete und vom europäischen Totalitarismus, den sie bekämpfte, kaum mehr
zu unterscheiden war - was sich auch nach Kriegsende nicht änderte und
Orwell 1948 zu seinem Roman "1984" bewegte: "Der Wille zum Faschismus war
1948 nicht verschwunden, die Korruption des Geistes, die unwiderstehliche
menschliche Verfallenheit an die Macht ..." Die hilflosen intellektuellen
Linken hatten darauf mit schizophrenem doublethink reagiert, der Dinge wie
KZs und Massendeportation mal als richtig, mal als falsch deklarierte.

Thomas Pynchon schreibt nach einer längeren Periode des Schweigens über "the
road to 1984" - seine Einleitung zu einer neuen amerikanischen Ausgabe des
Romans, die in dieser Woche erscheinen wird, ist leicht gekürzt am
Wochenende im Guardian vorabgedruckt. Natürlich schreibt Pynchon auch über
sich selbst, seine "Enden der Parabel" sind sicher nicht vorstellbar ohne
den direkten Bezug zu Orwells Werk und Welt. Auch der Zeitpunkt ist nicht
zufällig, "etwa ums Jahr 2003, wenn Regierungsbeamte mehr als wir übrigen
gezahlt bekommen, um Geschichte zu erniedrigen, Wahrheit zu trivialisieren
und die Vergangenheit Tag für Tag auszulöschen". Wenn diese Leute die Macht
haben, "jedem einzureden, sich selbst eingeschlossen, dass Geschichte
niemals sich ereignete, oder sich in einer Weise ereignete, die am besten
ihren Absichten dient - oder dass sie eigentlich sowieso völlig irrelevant
ist, außer in einer verblödeten, zusammengestoppelten einstündigen
Fernseh-Show".

Mit anger management, man sieht es, hat auch Thomas Pynchon zu tun, ein
halbes Jahrhundert nach Orwell. Als dissident left hat Orwell sich gesehen,
der sich seinen anger hart erkämpft hat auf den Schlachtfeldern, durch die
Verwundungen, die die Faschisten ihm zufügten im Spanischen Bürgerkrieg -
und man möchte diesen Begriff Dissidenz zusammenbringen mit dem der
Dekonstruktion. Auch Orwell war empfänglich für das Spiel politischer
Argumentation, dem die Postmoderne ihr Augenmerk widmete, für die Dialektik
von Vereinfachung und Vervielfältigung der Bedeutungen. Für die schillernden
Formen des berüchtigten doublethink, zwischen Zen-Buddhismus und dreister
Führerrhetorik. "1984" endet mit der Kapitulation des Individuums, Winston
Smith beginnt den Big Brother zu lieben. Aber dies ist nicht das letzte Wort
des Romans - es folgt ein Appendix über die "Principles of Newspeak", der
neuen Einheitssprache, der freilich in der Vergangenheitsform und in
klassischem Oldspeak geschrieben ist und, so hofft Pynchon, signalisiert,
dass auch Newspeak schon wieder Vergangenheit sein könnte. Orwell als
Meister des Hypertexts! Auf diesem Hintergrund ist das Foto zu sehen, das
Thomas Pynchon am Ende beschreibt: Orwell mit seinem Adoptivsohn Richard
Horatio Blair, aufgenommen 1944, dem Jahr, da auch Winston Smith geboren
sein könnte. Orwell schaut aus wie eine der Figuren, die Robert Duvall
spielte, ein amerikanischer Archetyp. Einen Glauben liest Pynchon in diesem
Bild, "so anständig, dass wir uns Orwell vorstellen können, und sogar uns
selber, wie wir, für einen Augenblick wenigstens, schwören, alles zu tun was
getan werden muss, damit er nie betrogen werde". Es ist kein Zufall, dass
dieser Text an dem Tag erscheint, da auf einem Flugzeugträger vor der Küste
der USA eine neue Periode im politischen Doublethink zu beginnen scheint.
FRITZ GÖTTLER
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel39.php




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