VLVL Wie ein Film, der rückwärts läuft

Otto ottosell at yahoo.de
Sat Mar 6 09:32:50 CST 2004


Thomas Pynchon: Wie ein Film, der rückwärts läuft
(Rowohlt Revue, Reinbek bei Hamburg, April, Mai, Juni 1993)

Pynchons neuer Roman - das ist Nordamerika kurz vor der Wiederwahl Reagans.
Eine finstere Zeit der Reaktion, wie der Autor findet, und ein paar Leute
kriegen noch einmal die Paranoia: Aus gutem Grund; denn sie werden gejagt.

Eine Weile glaubt die eben vierzehnjährige Prairie, ihr alleinerziehender
Vater Zoyd Wheeler, "ein Freigänger aus der örtlichen Nervenheilanstalt"
habe mal wieder zu viel gekifft, und das denkt auch der Leser, wenn er
sieht, wie Zoyd sich einmal jährlich durch die große Fensterscheibe des
"Cucumber Lounge" schmeißt, die in diesem Jahr aus Zuckerguß ist.

Aber Fehlanzeige: Für MAGMA (die "militärgestützte Aktion gegen
Marihuana-Anbau") ist es noch zu früh im Jahr, und SURF, die "Stiftung für
Umerziehung und Rehabilitation von Fernsehgeschädigten" jagt nur Leute wie
den durchgeknallten Hector Zuniga, der darauf wartet, daß die Nostalgiewelle
die sechziger Jahre erreicht, um dann "einen Film über all diese längst
vergangenen politischen Auseinandersetzungen und Drogen, Sex und Rock' n'
Roll zu machen." So kommt bald heraus, was wirklich angesagt ist: "Die
Vergangenheit war der Feind, den keiner wahrhaben wollte, ein Rachen, so
dunkel gähnend wie ein Grab."

Um Klartext zu sprechen: Brock Vond, ein früher unheimlich gut aussehender,
aber in der Verfolgung politischer Gegner schon immer skrupelloser
Bundesstaatsanwalt sucht Zoyds Ex-Frau, Frenesi Gates, Filmemacherin und
Revoluzzerin der sechziger Jahre, die aus den Regierungscomputern
verschwunden ist.

Mehr wird nicht verraten, denn diesen Pynchon Pynchon sollen nicht nur
Autoren lesen, die selber mal vorhaben, ein Buch über "jene mystische,
hochdramatische Zeit" zu schreiben, als sie Spieße zu Sicheln und ähnlich
beknacktes Friedenskämpferzeug" propagierten - ein Buch, das anno '84 auch
davon handeln muß, was aus dem "erstaunlichen Sechziger-Völkchen" geworden
ist; zum Beispiel Frenesi, die damals meinte: "Eine Kamera ist eine Waffe.
Ein geschossenes Bild ist ein vollstrecktes Todesurteil."

Wir unterbrechen für die Werbung: Pynchons "Vineland" ist eine
Polit-Horror-Sozio- und Science Fiction, mit gebirgsmassivmässigen
Materialanhäufungen aus der Welt des real existierenden US-Faschismus,die
sich nur einem Bewußtsein als real erschließen wird, das nach dem mobilen
Einsatzkommando der SURF schreit.

Literaturamtlich gesprochen: In diesem Roman-Brocken neigen sich zwei
Parabeln einander zu, bis sie sich berühren und die in ihnen fließenden
Bewußtseinsströme sich durchdringen: die Parabel, die wir politische
Wirklichkeit nennen, und die Parabel des Fernsehens. Platons Höhlengleichnis
hat ausgedient. Der Mensch, der den waghalsigen Versuch unternehmen sollte,
die Gruft zu verlassen, auf deren Rückwand das Fernsehen seine Geisterdramen
projeziert, wird draußen nicht das Licht der Vernunft erblicken - er betritt
einen Staat, der die gleichen paranoiden Züge trägt wie die Schatten der
Unterwelt.

Ach, eins noch: Pynchons Schnittechnik, mit der er große Bögen der
Vergangenheit auf dem schmalen Grat der Fluchtlinie der kleinen Prairie
balanciert: literarisch nachahmenswert, weil gekonnter als jede Postmoderne.
Und wo habe ich zuletzt so treffliche Beschreibungen schlechten und guten
Wetters gelesen? Richtig: bei Arno Schmidt. Und wo so treffliche Dialoge, so
spritzige Reflexionen, so profunde Geschichtskenntnisse? Jawoll: in einer
ziemlich dicken Schwarte, "V". Auch dieser Pynchon. Beneidenswert, dieser
amerikanische Rabelais.

-- Peter O. Chotjewitz




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