Friedrich Kittler on AtD
marscalla at aol.com
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Thu Jan 11 06:13:49 CST 2007
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Ein Meister legt den anderen aus
Pynchon ist ein Ereignis. Und Friedrich Kittler natürlich auch
Den Berliner Medientheoretiker und Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler auf das neue Buch von Thomas Pynchon (siehe SZ vom 3.1.2007) loszulassen, ist natürlich gerade so originell, wie einen Fußball-Fan ein Spiel der von ihm bewunderten Mannschaft analysieren zu lassen. Verweise auf Werke des legendär scheuen amerikanischen Schriftstellers finden sich in vielen der mediengeschichtlichen Schriften, die Kittler berühmt und berüchtigt gemacht haben, als den Mann, der auch in den weichen Geisteswissenschaften ausführlich von der allgegenwärtigen technischen Hardware und deren mathematischen Grundlagen sprechen will. Das Buch, das 1973 Pynchons Durchbruch bedeutete, der irrwitzige Roman über den 2. Weltkrieg "Gravity's Rainbow" (dt. "Die Enden der Parabel"), spielte und spielt bei diesem Projekt sogar die Rolle des Kronzeugen: "Spätestens seit ,Gravity's Rainbow‘ ist auch klar gestellt", heißt es in "Grammophon, Film, Typewriter", "dass die wahren Kriege nicht um Leute oder Vaterländer gehen, sondern Kriege zwischen verschiedenen Medien, Nachrichtentechniken, Datenströmen sind."
Freunde der Fairness
Was bekamen die Besucher also zu hören im vollbesetzten Stuttgarter Literaturhaus, wo der mittlerweile 63-jährige Friedrich Kittler am vergangenen Montag über seine "Leseeindrücke" vom neuen, monumentale 1085 Seiten langen Pynchon-Roman "Against the Day" sprach? Auf jeden Fall las zuerst einmal Nikolaus Stingl, der die bei Rowohlt erst 2008 erscheinende Übertragung besorgt, die von ihm selbst virtuos übersetzten ersten Seiten des Eingangskapitels. Und ein erstes Geheimnis darf seither als gelüftet gelten, noch ganz ohne Zutun des Deuters aus Berlin. Die Gruppe, die sich im amerikanischen Originaltext "Chums of Chance" nennt, und die sich zu Beginn mit ihrem Luftschiff im Anflug auf Chicago befindet, wo die gigantische Weltausstellung zur Feier des 400. Jahrestages der Entdeckung Amerikas läuft - diese Gruppe wird in der deutschen Fassung natürlich nicht einfach "Kumpel des Glücks" heißen, sondern "Freunde der Fairness".
Diese Präzision ließ Kittlers leider sehr eruptiver und gelegentlich allzu fliehender, silbenschluckender Vortrag oft vermissen. Zwar wird vielleicht ein gewisser Mangel an sofort nachvollziehbarer Konsistenz der Rede dem Gegenstand auch nur gerecht. Eine allzu geordnete Deutung würde sich auf jeden Fall im Widerspruch zum behandelten Werk befinden, das dem Leser schließlich als riesiges Puzzle begegnet. Aber etwas mehr als nur ein hektischer, mit manch eiliger Erläuterung eines Details, Namens oder Nebenschauplatzes garnierter Durchgang durch den ausufernden Plot des Romans wäre trotzdem schön gewesen. Die immer wieder sehr aufschlussreichen Kittlerschen Schlaglichter mochten sich so aber kaum zusammenfügen.
O-Ton Kittler: "Einer der Sexualhelden oder -heldinnen wird am Ende Mönch in Bulgarien, bei den einzigen Christen, von denen Pynchon behauptet, sie hätten das Erbe der Bogomilen und Katharer bewahrt und die Bogomilen und die Katharer, diese mittelalterlichen Ketzer, seien eigentlich verkappte Pythagoreer und keine orthodoxen Christen. Und Bulgarien ist Thrakien und Thrakien ist die Heimat von Orpheus und der war der Held der Pythagoreer. Und was haben Orpheus und die Orpheus'schen Gedichte und Hesiod im Gegensatz zu christlichen, jüdischen und muslimischen Göttern besungen: die Nacht statt des Tages. Und das ist die Nacht, aus der die Zahlen kommen, die Rätsel und die europäischen Wissenschaften. ,Against the Day‘ heißt: für die Nacht."
Diese Sache mit den Primzahlen
Für die Nacht, die für Kittler - und also Pynchon - die mathematische Nacht ist, in der sich die Menschheit noch immer befindet. Hier, bei der Mathematik, fand der Professor dann doch zurück zu sich und einer gewissen Klarheit: "Die Mathematik trägt den Roman." Das Neue an "Against the Day" sei, dass sich Pynchon diesmal auf eine technisch-mathematische Problematik einschieße: "Nämlich die Riemannsche Vermutung über die Primzahlenverteilung." Also die Vermutung des Mathematikers Bernhard Riemann über die Verteilung der Zahlen, die nur durch die eins und sich selber teilbar sind. Es ist eines der großen Rätsel der Welt. Wenn sich Riemanns Vermutung beweisen ließe, ließe sich das Verhältnis von Ursache und Wirkung umkehren - und Zeitreisen wären kein Problem mehr. Die Weltformel wäre gefunden. "Pynchon setzt darauf, dass in der Mathematik das Universum kodiert ist."
Noch Fragen? Dem Publikum fielen keine ein. Betretenes Schweigen. Dann aber doch noch eine Steilvorlage für den Meister. Ob sich Pynchon eigentlich als Wissenschaftler verstehe? Nein, nein, er verstehe sich, so Kittler, viel mehr als einer, der die Wissenschaft plausibel erklären wolle: "Das ist rührend und schön." Er, Kittler, habe sich deshalb Mühe gegeben, dieses Erklären seinerseits zu simulieren. Nun ja. Dann war wirklich Schluss. Erschlagene Stille beim Hinausgehen. Nur eine beseelte Frau, vielmehr natürlich: eine Dame, Mitte fünfzig, bildungsbürgerlich, im breiten Schwäbisch ungefragt zum jungen Studenten: Er hätte den Kittler in den Siebzigern erleben sollen. "Der war. . . der war. . .", ringt sie um den Begriff. "Ein Ereignis?", fragt der Student. Erleichterung: "Jaah, desch war er!"JENS-CHRISTIAN RABE
-----Ursprüngliche Mitteilung-----
Von: ottosell at googlemail.com
An: pynchon-l at waste.org
Verschickt: Do., 11.Jan.2007, 11:16
Thema: Friedrich Kittler on AtD
"Jens-Christian Rabe hat im Stuttgarter Literaturhaus zugehört, wie
Friedrich Kittler Thomas Pynchons neuen Roman erläuterte, leider recht
"eruptiv","gelegentlich allzu fliehend", "silbenschluckend" und von
einem "gewissen Mangel an sofort nachvollziehbarer Konsistenz der
Rede" geprägt."
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,459037,00.html
11.01.2007 Ein Meister legt den anderen aus,Pynchon ist ein Ereignis.
Und Friedrich Kittler natürlich auch...
http://www.sueddeutsche.de/sz/2007-01-11/feuilleton/artikel/HMG-2007-01-11-014-2btdGMniIAVzNIcWy7MlQQ/
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