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Werner Presber
wernerpresber at yahoo.de
Fri Jan 19 03:24:54 CST 2007
Thomas Pynchon
Drogen ohne Sucht
VON HELMUT MÜLLER-SIEVERS
Die Kinder des Anarchisten Traverse Webb machen sich einzeln aus den
Bergen Colorados auf, den Auftragsmord an ihrem Vater zu rächen. Die
Suche führt sie zwischen 1893 und den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg
nach New York, Wien, Göttingen, Venedig, London, in den Balkan, tief in
die Steppen Zentralasiens. Dabei begegnen ihnen und dem Leser
Ballonfahrer, mathematische Doppelgänger, englische Mystiker,
Untersandboote, sprechende Berge und lesende Hunde, sie müssen sich mit
der Mathematik der Relativitätstheorie, den Arkana des Tarot, mit Radio-
und Filmarchäologie und einem immensen Arsenal von Feuerwaffen
herumschlagen. Am Ende wird alles (einigermaßen) gut .
*Der Neue von Pynchon*
Als Thomas Pynchons Roman "Against the Day" in der Penguin Press
erschien, war die Aufregung nicht nur in den USA groß (FR 23.11.06).
Das Buch ist allerdings so dick (1085 S., 35 Dollar), dass die
Rezensenten mit dem Lesen kaum nachkamen.
Helmut Müller Sievers, Germanistik-Professor an der Northwestern
University bei Chicago, hat es geschafft - und ist begeistert.
Dass man die Handlung von Thomas Pynchons neuem Roman /Against the Day/
nur so hilflos oder aber viel zu ausführlich wiedergeben kann, zeugt
nicht nur von der Länge (1085 Seiten auf übrigens wunderschönem Papier)
des Werks, sondern von der vollständigen Verwobenheit der Handlung mit
ihrer Darstellung. Dies ist ein immer stärker hervortretender Zug seines
Schreibens; schon /Mason & Dixon/ war ohne die Neuschaffung einer
merkwürdig archaisierenden Sprache gar nicht zu verstehen. Wegen dieser
Tendenz zur Poetisierung haben sich Pynchons Stammleser langsam von ihm
abgewandt; für sie waren die frühen Romane Schatztruhen arkanen und
politisch brisanten technischen Wissens gewesen, das sich von seiner
literarischen Darstellung ablösen und überprüfen ließ.
Neue Leser, die sich an dem Choral der hundert Stimmen erfreuen, die
Pynchon in wilder Polyphonie verflicht, gibt es wohl nicht genug. Der
Roman ist denn auch zwiespältig aufgenommen worden, die Rezensenten
maulten vornehmlich über seine Länge, über die fast fünfzig Hauptfiguren
und das überscharfe geographische Detail. Das ist, um in Pynchons
Bildern zu bleiben, als klage man über zu viel Chateau Lafite und zu
kluge und schöne Frauen.
Bei Pynchon, um ihn damit gleich von Kollegen wie Roth oder Updike
abzusetzen, gibt es keinen Kater, keinen Überdruss, keine
Altersimpotenz. Es wird unablässig geraucht und getrunken und inhaliert,
unterbrochen nur von, nun, ausgefallen choreographiertem Sex. Kein
Lamento über verlöschende Lust in der Seniorenkolonie, nur die Wut über
die Verworfenheit der Kapitalisten. Drogen sind Gaben der Erde, damit
das Leben ein wenig Glanz bekommt, Sex eine überbordende Form der
Kommunikation, manchmal allerdings auch ganz schön albern. Doch gibt es
ebenso (auch hierin /Mason & Dixon/ weiterführend) Tränen, Liebe zu
Kindern, Eltern und Tieren, es gibt Geburt und Tod und, wunderbar
entfaltet, die Freundschaft.
Natürlich ein utopischer Roman,aber das Lesevergnügen ist real
Pynchon gestaltet das Verhältnis zwischen Frauen und Männern nach dem
Vorbild der 40er Jahre, als Lauren Bacall Bogart fragte, ob er wisse,
wie man pfeift. Es ist die Tradition des cool, in der Männer von einer
Aura der Einsamkeit umgeben sind, die die Frauen als Idiotie erkennen
und spöttisch zunichte machen. Anders als Bogart konjugiert Pynchon
diese Beziehung durch alle möglichen homo-, hetero- und polysexuellen
Konstellationen.
Daraus entsteht die Freundschaft. Ausgedrückt wird sie in hinreißenden
Dialogen, deren Lakonismus und Humor das gesprochene Amerikanisch
endlich einmal in seinem ganzen Reichtum zeigt. Wie um das zu
unterstreichen, lässt Pynchon einen Pistolenhelden aus Colorado gegen
einen /décadent/ aus Cambridge im Kampf um eine bezaubernde
Mathematikerin antreten. Auch sie werden Freunde, doch am Ende erlegt
der Engländer sich ewiges Schweigen auf.
Überhaupt die Dialoge: Pynchon hat eines der haarigsten Probleme der
Romantechnik gelöst, wie nämlich der Stillstand der Handlung im Dialog
und umgekehrt der Stillstand der Reflexion in der Handlung aufgehoben
werden können. Das "sagte er" gibt es bei ihm nicht mehr, oft wird man
direkt aus dem Dialog in den Ort oder die Zeit, über die gerade
gesprochen wird, transportiert, oft beginnen Dialoge mitten in den
Beschreibungen, und Leute unterbrechen sich dauernd. Man weiß zwar so
nicht immer genau, wo man gerade ist oder wer gerade spricht, aber
irgendwie stimmt dann schon alles. Auch diese Technik ist dem Film
abgeschaut und nach einer Weile wird sie ganz selbstverständlich.
So riesig das Buch auch ist und so atemberaubend die Darstellung des
Wissens und der Geschichte, die Kerneinheit von Pynchons Dichtung ist
doch der Absatz. Aus /Mason&Dixon/ hat er die hochfrequente, im
Deutschen am ehesten an Kleist gemahnende Kommasetzung übernommen,
ebenso das Vertrauen, dass verschachtelte Sätze den Leser nicht
abhängen. Wörter kommen vor, an die man schon nicht mehr geglaubt hat.
Der Absatz, selten länger als eine Dreiviertelseite, entwirft einen
Gedanken oder eine Beschreibung in einem hohen Bogen, der in lyrischen
Rhythmen wieder zurückkommt, am Ende oft das Gesagte noch einmal in
Frage stellend, oder erhöhend.
Auf jeder Seite dieses Romans sprudeln Vergleiche, Wortkaskaden,
Einsichten, für die andere Schriftsteller kapitelweise schuften müssen.
Selbst wenn es in diesem Roman um nichts ginge, dieser in jeder Hinsicht
unfassbare Reichtum schon würde ihn - man möchte mit Nietzsche sagen:
auf ewig-rechtfertigen. Es geht aber um etwas, nämlich um die
Archäologie des ersten Weltkriegs.
Wir sind vom Schrecken des Holocausts so verstrahlt, dass wir nicht mehr
sehen können, welchen Bruch im Projekt Zivilisation diese Katastrophe
dargestellt hat. Krieg war bis dahin ein extremer Ausdruck von
Rationalität und Wissenschaft gewesen, Fortsetzung der Politik eben. Nun
aber begann ein Krieg aufgrund einer Serie von diplomatischen Pannen und
kleinlichsten Partikularinteressen, und er wurde geführt von
inkompetenten und zynischen Befehlshabern, die eine ganze Generation
Männer zu opfern bereit waren, oft wegen weniger Meter Bodengewinn.
Pynchon versucht, die Faktoren zu isolieren, die zu diesem Kollaps
beigetragen haben. Dazu gehören, wie schon in /Gravity's Rainbow/, die
Wissenschaften, die leicht korrumpierbar sind, aber gleichzeitig die
Möglichkeit eines Neuanfangs bergen. In /Against the Day /ist die
Mathematik zentral, da sie im späten 19. Jahrhundert einen Zugang zu
Regionen der Mystik, genauer: zu neuen Erfahrungen von Raum und Zeit
aufdeckte, ihn aber gleich wieder verschloss. Die Relativitätstheorie
ist für Pynchon ein fauler Kompromiss, der gegen die Möglichkeit des
Äthers und die Bildbarkeit der Zeit geschlossen wurde. Das ist manchmal
emphatisch, meistens aber komisch bis albern vorgetragen; hie und da ein
Blick in Wikipedia hilft zur Orientierung, ist aber nicht unbedingt
notwendig zum Lesegenuss.
Der grenzenlosen Inkompetenz europäischer Politik steht die Habgier
amerikanischer Plutokraten gegenüber. Wie in seinen vorigen Romanen geht
Pynchon auch hier naiv davon aus, dass der Böse weiß, dass er böse ist,
wo doch noch jeder Stahlbaron tief überzeugt war, ein Wohltäter der
Menschheit zu sein. Auf der anderen Seite gehen die dynamitschmeißenden
Anarchisten vielleicht ein bisschen zu fröhlich zu Werke. Doch die
Rekonstruktion des Anarcho-Syndikalismus und seiner sozialen Utopien ist
gerade angesichts des blutigen Manichäismus' unserer Tage erfrischend
und beeindruckend, besonders in der hinreißenden Beschreibung Chicagos
am Ende des 19. Jahrhunderts.
Sollte man für diesen so vielgestaltigen Roman ein übergreifendes Thema
angeben, so wäre es das aller großen amerikanischen Romane: die Suche
nach innerweltlicher Erlösung. Kann man ohne auf Gott, die Verzweiflung
oder die Askese zu verfallen, ein Leben in aller Fülle führen und
zufrieden sterben? Pynchon bejaht diese Frage nicht nur in seinen
Figuren und in seinem ungebrochenen Glauben an die Heilkraft von
Sex&Drugs&Rock'n'Roll, sondern kräftiger noch in der Gabe seines Romans
selbst. Drogengenuss ohne Kater, Sex ohne schlechtes Gewissen, Henry
James (das Spätwerk) lesende Hunde: natürlich ist dies ein utopischer
Roman. Doch die Stunden seiner Lektüre sind real und real beglückend.
Leider aber auch unwiederbringlich. Die wirkliche Utopie wäre die
Verfilmung von /Against the Day/. Regie: Jim Jarmusch. Musik: Tom Waits.
via Frankfurter Rundschau:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1053219
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