Thomas Pynchon - Gegen den Tag
Otto
ottosell at googlemail.com
Sat Dec 27 04:25:48 CST 2008
Thomas Pynchon - Gegen den Tag
Vielleicht ist dies die Welt:
Fast 1600 Seiten stark und gewollt unübersichtlich ist Thomas Pynchons
Romanepos Gegen den Tag (im englischen Original Against the Day). An
die nun vorliegende deutsche Übersetzung haben sich Nikolaus Stingl
und Dirk van Gunsteren gewagt. Man kann sich ihr
Übersetzungs-Unternehmen ähnlich abenteuerlich vorstellen wie die
Eskapaden des Luftschiffs Inconvenience und seiner Besatzung.
Jenes Luftschiff ist es nämlich, das einen roten Faden durch Pynchons
Romanlabyrinth legt; so es darin einen gibt. Sicher ist jedenfalls,
dass die Inconvenience am Anfang einer Reise steht, deren räumliche
wie zeitliche Dimensionen nach und nach aus den Fugen geraten. Von der
Weltausstellung 1893 in Chicago führt der (Luft-)Weg über Colorado und
New York nach London und Paris, nicht ohne Halt in Hawaii, Venedig
oder Mexiko, dafür sehr wohl ohne zwingende Chronologie. Pynchons
Erzähler erinnert uns nämlich auch an allerlei Abenteuerliches, das
vor unserer Zeit liegt, das wir gar nicht kennen können, weil es in
Gegen den Tag schlicht und einfach nicht vorkommt. Eher schon in
(freilich frei erfundenen) Groschenromanen, die wir konsultieren
sollten, falls unsre Erinnerung irgendwo, irgendwie, irgendwann
aussetzt.
Thomas Pynchon macht hier das, was er selbst „sein Spiel treiben"
nennt: Er schlägt Löcher in die wohlig-warme Roman-Welt, lässt sie
über sich hinausweisen. Nur so kann am Ende gelten, was uns Pynchon
vor der Lektüre noch mit auf den Weg gibt: „Vielleicht ist dies nicht
die Welt, aber mit ein, zwei kleinen Änderungen könnte sie es sein."
Was nun die Belegschaft der Inconvenience (zu Deutsch etwa
Unannehmlichkeit) angeht, so haben wir es mit einer schrulligen Truppe
zu tun, die sich auch „Die Freunde der Fährnis" nennt. Ihre Ausfahrten
sind, nomen est omen, oft unbequem und meist sogar ziemlich
gefährlich. So auch die Landung in Chicago, die beinahe zur
klitzekleinen Katastrophe gerät. Davon lassen sich die geerdeten
Aeronauten indes nicht aus der Ruhe bringen. Lieber beobachten sie via
Fernrohr und aus sicherer Entfernung ein „unzüchtiges Paar", das sich
am Boden gerade – peinlich berührt und erschrocken zugleich – aus dem
Staub macht: „Die beiden schienen einem nahe gelegenen Gehölz
zuzustreben und warfen immer wieder furchtsame Blicke nach oben auf
die gewaltige Gashülle der niedergehenden Inconvenience, ganz so, als
wäre sie ein riesiger Augapfel, vielleicht derjenige der Gesellschaft
selbst, der im Geiste konstruktiven Tadels allzeit von oben achtgab."
Am Ende ist die Inconvenience tatsächlich mächtig über sich
hinausgewachsen. Mittlerweile groß wie eine Kleinstadt und stets auf
dem neusten Stand der Technik durchforscht sie den unkartografierten
Weltraum. Fast mythisch, dem Augapfel Gottes nicht unähnlich, fliegt
sie nach 1596 Seiten „der Gnade entgegen".
Fazit:
Gegen den Tag ist nichts weniger als eine Schatzkiste, übervoll mit
tausend und einer Geschichte, hundert und einer Figur. Schwer zu
sagen, was sie eint. Vielleicht ein Nachdenken darüber, wie zweierlei
zusammengehen kann: Ein überschwänglicher Glaube an den technischen
Fortschritt auf der einen, das Wissen um das Rätselhafte und
Unergründliche auf der anderen Seite. Seiten jedenfalls gibt's hier
genug. – Eine Empfehlung.
Thomas Pynchon
Gegen den Tag
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren
1600 Seiten
ISBN 978-3-498-05306-2
Rowohlt, 2008
http://www.lemeus.at/magazin/newsdetail/article//thomas-pynch.html
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