Der große Zerfall
Otto
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Wed Aug 5 20:21:05 CDT 2009
Der große Zerfall
von Sebastian Moll, 04.08.2009, FR-online.de
Nicht wenige eingefleischte Pynchon-Fans werden von ihrem Idol
enttäuscht sein, wenn sie sein neues Werk "Inherent Vice" in die Hand
bekommen. Das nicht einmal 400 Seiten starke Buch ist auf den ersten
Blick ein Verrat des für seine überbordende Erzählweise berühmten wie
berüchtigten Meisters an sich selbst. Es ist eine Genre-Erzählung, die
sich streng an die Regeln des Noir hält, eine Etüde, bei der Pynchon
seine Fantasie weniger auf die Komposition eines unüberschaubaren
Roman-Gebildes verwandt hat, als auf Dialogwitz und die Skizzierung
eines überaus farbenfrohen Ensembles an Charakteren.
(...)
Noch immer hält Pynchon die Paranoia, die aus solch epistemologischer
Verunsicherung entsteht, für den unhintergehbaren Dauerzustand des
modernen Subjekts. Der Privatdetektiv ist freilich der klassische
Paranoiker und insofern ist Pynchons Wahl des Noir-Genres alles andere
als zufällig. Ebenso wenig wie das Jahr 1969 und Los Angeles als
Schauplatz und Zeitpunkt für "Inherent Vice". Pynchon hat sich seit
"Gravity´s Rainbow" immer mit Epochen des historischen Umbruchs
beschäftigt: Damals, 1974, war es das Ende des Zweiten Weltkriegs,
nach dem er schaute, um den Kalten Krieg und die drohende globale
Apokalypse zu ergründen. In "Vineland" blickte er auf die Sechziger
Jahre, um die darauf folgende Reagan-Ära zu durchleuchten.
"Mason-Dixon" beschäftigte sich mit der Frühphase des Kolonialismus
und der Nationalstaaten und hatte dabei deren andauernde Folgen im
Sinn. "Against the Day" erforschte den Eintritt in die
technisch-wissenschaftliche Moderne, indem er den Weg von der
Weltausstellung 1893 zum Ersten Weltkrieg nachzeichnete. "Inherent
Vice" nimmt den Moment ins Visier, in dem die US-Gesellschaft
auseinanderfällt, jenen Augenblick, an dem die Charlie Manson-Morde,
die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen, das
Mainstream-Amerika gegen die Subkultur der 60er Jahre aufbrachten.
Es ist die Geburtsstunde des Hyper-Kapitalismus und somit letztlich
auch der Immobilienblase, beides prominente Motive des Buchs. Auch das
Internet taucht in Form seines damaligen Vorläufers auf und zeigt
schon 1969 das Potenzial der permanenten Überwachung von jedem durch
jeden. Es sind alles Vorboten einer radikalen Dystopie, die Pynchon da
in der nicht allzu fernen Vergangenheit gefunden haben will. Dabei
traut er sich allerdings selbst nicht und will auch nicht, dass jemand
anderes das tut. Am Ende von "Inherent Vice" sitzt Doc Sportello am
Rand des Highways und wartet - darauf, dass sich ein Joint in seiner
Tasche materialisiert oder eine Blondine in einem Stingray ihn
aufgabelt. Oder, dass sich einfach nur der Nebel über L.A. lüftet und
eine ganz andere, überraschende Realität zum Vorschein kommt, die ihm
zeigt, dass das alles doch nur halluziniert war. Und dabei wohl nur
eine weitere Halluzination wäre.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/1864573_Der-neue-Thomas-Pynchon-Der-grosse-Zerfall.html
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