DLF-Buechermarkt review

Otto ottosell at googlemail.com
Fri Aug 7 09:45:29 CDT 2009


Thomas Pynchon: Inherent Vice

Seit fast zwei Jahrzehnten vertritt unser Rezensent die gleiche These:
Wahre literarische Wunder, so behauptete unser Rezensent erstmals im
Jahre 1990, wahre literarische Wunder gibt es am ehesten im
Kriminalroman.

Leider ist unserem Rezensenten bislang kaum jemand in dieser
Einschätzung gefolgt. Zwar gibt es mittlerweile allmonatliche
Krimibestenlisten, die KrimiWelt-Bestenliste heißen; die Internetseite
"Krimi-Couch" schlidderte nur knapp am Grimme Preis vorbei und selbst
der Suhrkamp-Verlag veröffentlicht inzwischen Spannungsliteratur, aber
so richtig ist der Krimi immer noch nicht in der Literatur angekommen.
Er bleibt der missratene Sohn der hehren Kunst. Weit entfernt von der
Weltherrschaft.

Bis zum Sommer 2009: Es ist das Jahr, in dem der größte
Großschriftsteller der ganzen Welt und zugleich der führende
Verschwörungstheoretiker dieses Planeten, der opulenteste Erzähler des
Universums plötzlich zu aller Verblüffung einen kleinen Krimi
veröffentlichte.

Und die Welt saß da und las und staunte. In diesem Sommer ist ein
Krimi die literarische Sensation. Ein Ereignis allenthalben! Im
Internet hat sich am Tag der Veröffentlichung eine eigene
Unterabteilung der Online-Enzyklopädie Wikipedia formiert, die sich
nur der Entschlüsselung dieses einen Kriminalromanes widmet.

Natürlich ist die Rede von "Inherent Vice", dem verblüffenden, neuen
Roman des größten zeitgenössischen Schriftstellers: Thomas Pynchon.
Und wirklich: Es ist ein Kriminalroman! - Ein lesbarer obendrein,
wundern sich die Nicht-Krimi-Literaten.

"Inherent Vice" ist Anfang August in Amerika erschienen. Schon der
Titel ist mehrdeutig. Der Titel bezeichnet entweder als
"Beschaffenheitsschaden" einen juristischen Sachverhalt oder er
bedeutet übersetzt "Innewohnender Mangel". Wem da ein Mangel
innewohnt, ist schnell erklärt. Schon das Motto des Krimis zeigt es
an. Es lautet "Under the paving-stones, the beach", was zu deutsch
"Unterm Pflaster liegt der Strand" heißt und ein bekannter Slogan des
68er-Aufstandes in Paris war.

Los Angeles im Jahre 1970: Der langhaarige Detektiv und Hippie Doc
Sportello, an dessen Bürotür die Buchstaben "LSD-Investigations"
angeblich für "Location, Surveilance, Detection", also für
"Außeneinsatz, Überwachung, Ermittlung" stehen, wird von seiner
Ex-Freundin Shasta in einen typisch pynchonesken Fall hineingezogen.

Doc Sportello kann ohne Drogen kaum denken. Seine Ex-Freundin hingegen
hat Angst, dass ihr neuer, millionenschwerer Liebhaber von seiner Frau
entmündigt wird. Bevor Sportello aber ermitteln kann, sind sowohl
Shasta als auch ihr Liebhaber verschwunden und Sportello selbst wird -
wie es sich für einen Kriminalroman gehört - von einem Bananenschalen
fressenden Polizisten namens Bigfoot Bjornsen diverser Straftaten
verdächtigt.

Weltweit jubeln die Literaturkritiker, dass Thomas Pynchon, das
Obskuritätswunderkind, dessen letzter Roman "Gegen den Tag" mit 1595
Seiten immer noch halb ungelesen neben dem Bett unseres Rezensenten
liegt, erstmals einen richtig spannenden Roman geschrieben hat: ein
Buch, das gut lesbar ist und obendrein nur 369 Seiten hat.

Aus der Warte unserer Krimikolumne aber hat Mister Thomas Pynchon
einfach einen meisterhaften Krimi geschrieben, der raffiniert damit
arbeitet, dass dem drogenaffinen Detektiv die wahre Wirklichkeit immer
wieder etwas abhanden kommt, sich andere Wirklichkeiten dahinter
auftun, die alle durch Verschwörungen und Verbrechen miteinander
verbunden sind und die in einer Sprache beschrieben sind, die auf der
Höhe der Zeit ist ...

... also ein ganz normaler Krimi. Und während die Kunstwelt sich
wundert, dass ihr Held Thomas Pynchon sich dazu herabgelassen hat,
einen Krimi zu schreiben, sind wir Krimileser zufrieden, dass sich
nach Dürrenmatt endlich einmal wieder ein Großschriftsteller an dieses
komplexe Genre gewagt hat. Denn die anderen kneifen nur. Und
überhaupt: Man stelle sich den unsäglichen Krimi vor, den Günther
Grass schreiben würde.

"Inherent Vice" ist in der englischen Fassung jetzt schon in jedem
guten Buchladen erhältlich. Auf deutsch wird das Buch nicht vor
nächstem Jahr, aber sicher im Rowohlt Verlag erscheinen.

Aug 07, 2009, 16:10h
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1012937/




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