np Daniel Kehlmann: "Ruhm"

Otto ottosell at googlemail.com
Fri Jan 16 19:48:40 CST 2009


Spiegelkabinett der Moderne

Daniel Kehlmann: "Ruhm", Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 203 Seiten

Ein Mann legt sich sein erstes Handy zu und erhält damit unversehens
die Eintrittskarte in ein anderes Leben, denn er wird ständig von
fremden Menschen angerufen. Ein verwirrter Internetblogger wünscht
sich nichts sehnlicher, als einmal Romanfigur zu sein. Eine
Krimiautorin geht auf einer abenteuerlichen Reise in Zentralasien
verloren. In neun Episoden gelingt Daniel Kehlmann in "Ruhm" ein
raffiniertes Spiel mit Realität und Fiktion, elektronischer und realer
Welt.

Nach dem historischen Roman "Die Vermessung der Welt" kehrt Daniel
Kehlmann an die vorderste Front der Gegenwart zurück, zur modernen
Laptop- und Handy-Existenz, immer unterwegs und trotzdem jederzeit
erreichbar. Es ist ein Zyklus von neun Geschichten mit starken
Verflechtungstendenzen zum Roman.

So schlicht der Stil zunächst daherkommt - dieses Buch ist ein
nabokovianisch vertracktes Spiegelkabinett, eine Erzählbühne mit
doppeltem und dreifachem Boden. Gemeinsam ist den Geschichten, dass
sie von irritierenden Erfahrungen des Selbstverlustes erzählen und
zugleich von den Tücken und Funktionsstörungen der vernetzten Welt.

Da legt sich ein Mann sein erstes Handy zu und erhält damit
unversehens die Eintrittskarte in ein anderes Leben. Denn er wird
ständig von fremden Menschen angerufen; offenbar wurde die Nummer
doppelt vergeben. Nach anfänglicher Irritation lässt er sich auf das
Spiel mit der fremden Rolle ein.

In einer korrespondierenden Geschichte passiert dem Schauspieler Ralf
Tanner genau das Gegenteil: Anrufe bleiben aus, und langsam erlebt er
die feindliche Übernahme seiner Existenz durch einen Tanner-Imitator.
Wobei am Ende gar nicht mehr sicher ist, wer hier als Fälschung und
wer als Original auftritt.

Wie Hohn auf die globalisierte Welt liest sich die albtraumhafte
Geschichte "Osten", in der die Kriminalschriftstellerin Maria
Rubinstein an einer Journalistenreise durch einen vergessenen
asiatischen Winkel teilnimmt, eine komödienhafte Diktatur, in der der
Fortschritt gepriesen wird und die Rückständigkeit hoffnungslos ist.
Es ist eine Tour de force voller Missverständnisse und Pannen, bei der
Maria Rubinstein schließlich der Welt abhanden kommt.

Kehlmann wechselt ständig die Stimmen und Tonlagen, bis hin zum
grotesk übersteuerten Bloggerslang von "Ein Beitrag zur Debatte". Hier
erzählt der schwer gestörte Internet-Nerd und manische
Foren-Kommentator Mollwitz die desaströse Geschichte seines Auftritts
in der wirklichen Welt. Es ist eine schwarze Satire auf die
"demokratische" Kommunikationsgemeinschaft im Netz - ein virtueller
Mob, angetrieben von Paranoia und Geltungssucht.

Zu den durchgehenden Motiven gehört die Verwandlung der Welt in Text
und Literatur. Während Mollwitz sich danach verzehrt, sein
unscheinbares Leben in einem Buch des Schriftstellers Leo Richter
wiederzufinden, hadert die krebskranke Heldin der grandiosen Erzählung
"Rosalie geht sterben" mit dem Schicksal, das ihr der Autor - auch
hier: Leo Richter - zugewiesen hat. Auch Richters Freundin Elisabeth
verbittet es sich, als literarische Figur verwertet zu werden, muss
dann aber bei ihrem zweiten Auftritt feststellen, dass sie sich mitten
in einer seiner Geschichten befindet.

Auch der Leser hatte sich bereits gewundert, warum der selbstbezogene
Schriftsteller, den er zuvor als übervorsichtigen Zeitgenossen
kennengelernt hatte, in der letzten Erzählung - mitten in einem
afrikanischen Krisengebiet! - so cool und souverän agiert wie ein
Hemingway-Held. Solch gleitender Wechsel der Ebenen produziert immer
wieder subtile Komik.

Und natürlich geht es um Ruhm. Das ist mehr als die kokette
Aufbereitung der Leiden der Prominenz. Figuren wie Leo Richter, Ralf
Tanner und Miguel Auristos Blancos, Verfasser spiritueller
Weltbestseller und eine an den Rand des Selbstmords geschickte
Coelho-Parodie, dienen Kehlmann zur Auseinandersetzung mit den
Schimären der Öffentlichkeit und den Mechanismen kollektiver
Sehnsüchte. Im Verlauf ihrer Karrieren werden die Stars zur
menschlichen Fracht unberechenbarer Kommunikationsströme - auch sie
werden sich selbst unwirklich.

"Ruhm" ist ein hoch intelligentes Buch und zugleich ein Lesevergnügen,
das auf Seite 203 nicht zu ende ist. Denn gleich beginnt man wieder
von vorn und liest die Geschichten ein zweites oder drittes Mal, um
mit erweitertem Blick neue Entdeckungen zu machen - seien es weitere
Binnenverknüpfungen der Erzählungen oder externe literarische
Anspielungen wie der unheimliche Taxifahrer mit dem "öligen Lächeln",
der in zwei Geschichten vorkommt und an die Hadesführer in Thomas
Manns "Tod in Venedig" erinnert. Er weiß ganz genau, wozu wir "all
dies Elektrische" in den Taschen haben.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009
203 Seiten, 18,90 Euro

Audio-review:

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2009/01/16/drk_20090116_1033_b8c235b6.mp3




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