Salman Rushdie
Otto
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Sat Jan 30 08:54:28 CST 2010
Trägheit - das kosmische Laster
(...)
Tyrone Slothrop
Zwei immer wiederkehrende Motive im Werk des öffentlichkeitsscheuen
amerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon sind Paranoia und
Entropie. Viele seiner paranoiden Protagonisten, wie Herbert Stencil
in "V." sowie beinahe alle Personen in "Die Versteigerung von No. 49",
sind überzeugt davon, dass die wahre Gestalt und Bedeutung der Welt im
Verborgenen liegt und dass gewaltige Kräfte - Regierungen, Konzerne,
Außerirdische - die Welt beherrschen und ihr Wirken durch geschickte
Tarnung geheim halten.
Diesem Typ von Protagonisten ist ein anderer gegenübergestellt, zu dem
beispielsweise der Seemann Benny Profane und die "ganze kaputte Bande"
in "V." gehören. Für sie ist das Leben ein träges, fast katatonisches
Saufgelage, das bis in alle Ewigkeit kurz davor ist, ein Ende zu
finden, ohne aber je wirklich aufzuhören.
Das zweite Gesetz der Thermodynamik besagt, dass Wärme immer von einem
warmen Körper auf einen kälteren Körper übergeht, so dass der warme
Körper langsam abkühlt und der kältere sich erwärmt. Wendet man diesen
Grundsatz auf das ganze Universum an, dann muss man davon ausgehen,
dass die Wärmeenergie aller warmen Körper - also zum Beispiel der
Sterne - langsam aber sicher an andere, weniger warme Körper abgeführt
wird, bis am Ende die gesamte Materie des Universums die gleiche
Temperatur hat und keine brauchbare Energie mehr übrig ist. Der ganze
Kosmos erliegt einem tödlichen Schwächeanfall. William Thomson, der 1.
Baron Kelvin (eine real existierende Person, keine Erfindung von
Pynchon), nannte das 1851 den Wärmetod des Universums. Benny Profanes
ewiges Saufgelage wäre dann endlich auch vorbei.
Paranoia ist bei Pynchon eine Art von höherer Einsicht - keine
Wahnvorstellung, sondern eine geschärfte Wahrnehmung. Seine Paranoiker
sind Menschen, die bemüht sind, das zu durchschauen, was der
Hinduismus Maya nennt: die Verblendung, derentwegen ein Mensch nicht
in der Lage ist, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
So ist also die Paranoia bei Pynchon eine fast optimistische
Sichtweise, die annimmt, dass das menschliche Dasein in der Tat einen
Sinn hat; das einzige Problem besteht eben darin, dass der Sinn vor
uns verborgen wird, so dass wir ihn nicht erkennen können.
Die pessimistische Kehrseite der Paranoia besteht in der Metapher der
Entropie. Pynchon zeigt uns, dass die Welt sinnlos ist, dass all unser
Tun und Sein vergänglich ist, dass die Energie uns entweicht und wir
dazu verdammt sind, immer langsamer zu werden, bis zum Zustand der
ultimativen Absurdität.
Diese beiden Motive sind vereint in der Figur von Tyrone Slothrop, dem
Protagonisten (wenn man ihn so nennen kann) von Pynchons äußerst
komplexem und anspruchsvollem Werk "Die Enden der Parabel". Slothrops
Geschichte enthält viele paranoische Elemente: beispielsweise seine
geheimnisvolle Konditionierung "jenseits der Null" durch einen
gewissen Laszlo Jamf, als er ein kleines Kind war. Und dann ist da
natürlich noch die merkwürdige Sache mit der Poisson-Verteilung.
Die Poisson-Verteilung ist eine Art der Wahrscheinlichkeitsberechnung
und "liefert Voraussagen über die Anzahl des Eintretens seltener,
zufälliger und voneinander unabhängiger Ereignisse innerhalb eines
bestimmten Intervalls, wenn aus vorangehender Beobachtung bereits
bekannt ist, wie viele Ereignisse man im Mittel innerhalb dieses
Intervalls erwartet." In "Die Enden der Parabel" wird mittels der
Poisson-Verteilung ein Diagramm erstellt, das zeigt, wo genau in
London Tyrone Slothrop seine amourösen Abenteuer hat. Aus nicht
auslotbaren und deshalb gänzlich unbekannten Gründen sind das genau
die Orte, wo einige Tage später deutsche V2-Raketen einschlagen
werden.
Tyrone Slothrop gehört wohl eher ins Lager der entropischen Figuren in
Pynchons Werk - obwohl er auch paranoische Züge hat. Er ist ein
ziellos umherziehender Vagabund, passiv, träge und sterbend. Sein
Geist spaltet sich in mindestens vier verschiedene Persönlichkeiten
auf, und so verschwindet er als Romanfigur; er stirbt den Wärmetod.
Wie sieht Slothrop aus? Ich stelle ihn mir groß und mager vor, in
rotweiß kariertem Holzfällerhemd und Röhrenjeans, mit Einstein-Frisur
und Bugs-Bunny-Zähnen.
Ich bin Thomas Pynchon mal begegnet, aber das Treffen war an einige
Bedingungen geknüpft, und so ist es mir jetzt nicht möglich zu sagen,
ob die oben angeführte Beschreibung auch auf den Autor zutrifft.
Allerdings kann ich sagen, dass der Autor seinerseits keineswegs in
eine entropische Erstarrung verfallen ist, sondern im Gegenteil mit
großem Elan weiterhin Bücher schreibt über den Verlust von Energie.
Des Weiteren kann ich sagen, dass der Name Tyrone Slothrop ein
Anagramm von "Sloth or Entropy" [Trägheit oder Entropie] ist.
(...)
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=2247441&em_cnt_page=3
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