1984 Foreword
Otto
ottosell at yahoo.de
Wed May 14 02:39:05 CDT 2003
Pynchon über Orwell
Großer Bruder
Thomas Pynchon kommentiert Orwells Roman "1984"
Von Paul Ingendaay, Madrid
In seinem Essay "Why I Write" aus dem Jahr 1946 berichtet George Orwell
(1903 bis 1950), in den vergangenen zehn Jahren habe er versucht, "in
künstlerischer Form politisch zu schreiben". Und er stellt fest, seine
Bücher seien immer dann leblos geworden, "wenn ihnen eine politische Absicht
fehlte und ich mich in gedrechselte Passagen, nichtssagende Sentenzen,
schmückende Beiworte und ganz allgemein in Geschwafel verlor". Dem heutigen
Leser geht es mit diesem Satz ein bißchen so wie mit Orwell überhaupt. Schön
formuliert, aber auch das Gegenteil stimmt. Denn ohne seinen Prosastil, der
nicht auf politischer Gesinnung, sondern auf Sprachempfinden und
handwerklicher Übung beruhte, wären George Orwells gesammelte Werke nichts
wert.
Man könnte noch weiter gehen und den politischen Analytiker Orwell Punkt für
Punkt zerpflücken, wie es unlängst im "New Yorker" geschah. Und es war nicht
das erste Mal. George Orwell schrieb mit solch musterhafter Klarheit, daß
sich Heerscharen von Kritikern über ihn hergemacht haben, die seinen Stil
links liegenließen und sich die große Wahrheitsfrage stellten: Hatte Orwell
"recht" mit seinem politischen Befund über den Imperialismus, den Faschismus
und den Kommunismus? "Stimmt" die Diagnose seiner Parabel "Farm der Tiere"
(1945) oder seines Romans "1984" (1949)? War der Schriftsteller wirklich so
vorausschauend, wie der Essayist Christopher Hitchens in seiner
Orwell-Apologie im vergangenen Jahr behauptete? Bleibt etwas von ihm,
nachdem das sowjetische Imperium, vor dem der demokratische Sozialist so
eindringlich gewarnt hatte, krachend zu Boden gestürzt und an seiner Stelle
schlafende Nationalismen erwacht und neue Religionskriege ausgebrochen sind?
Gerade religiöser Fanatismus sei in Orwells düsterer Utopie "1984" auf
sonderbare Weise abwesend, schreibt jetzt der amerikanische Schriftsteller
Thomas Pynchon im Vorwort zur Neuausgabe des Romans, die in diesen Tagen bei
Penguin in New York erscheint. Noch merkwürdiger: In dem totalitären Staat
Oceania, der "Big Brother" und das "Wahrheitsministerium", "Doublethink" und
"Newspeak" hervorgebracht hat, fehlt jeglicher Rassismus und insbesondere
der Antisemitismus, den selbst der gutgläubigste Zeitgenosse im Jahr 1949
nicht mehr als Lappalie verbuchen konnte. Die einzige jüdische Figur des
Romans, Emmanuel Goldstein, taucht wohl nur auf, weil das historische
Vorbild - Leo Trotzki - Jude war.
Pynchon findet für diese Leerstellen interessante Erklärungen. Die eine
lautet, Orwell sei vor der Monstrosität des Verbrechens möglicherweise wie
gelähmt gewesen, die andere, er habe die historische Bedeutung des Mordes an
den europäischen Juden vielleicht wirklich nicht begriffen. Allerdings, wenn
die eine Erklärung zutrifft, muß die andere falsch sein. Der Roman "1984",
so glaubt Pynchon, könnte Orwells Versuch darstellen, "eine Welt neu zu
definieren, in welcher der Holocaust nicht stattgefunden hat".
Doch gleichzeitig legt Pynchon nahe: Wenn man das Spiel um richtige und
falsche Prophezeiungen auf allen Ebenen spielt, schneidet Orwell gar nicht
schlecht ab. Großbritannien und die Vereinigten Staaten etwa bilden in
"1984" einen gemeinsamen Block, eine außereuropäische Allianz, deren
Neuauflage wir soeben im Irak-Krieg erlebt haben. Und daß im
Friedensministerium aus dem Roman "1984" der Krieg vorbereitet und im
Liebesministerium Folter verübt wird, was sei das anderes als eine
amerikanische Kriegsmaschinerie mit dem Namen "Department of Defence"?
"Freie" Medien in Amerika? Eine Illusion. Ausgewogene Nachrichten? Ein Witz.
"Jeden Tag", so Pynchon, "wird die öffentliche Meinung zum Adressaten
umgeschriebener Geschichte, amtlicher Amnesie und krasser Lügen."
Die meisten Umwertungen von Orwells Werk verraten mehr über die Bedürfnisse
seiner Deuter als über ihn selbst. Denn dieser Sozialist mit Eton-Erziehung,
der linke Denker mit schlechten Tischmanieren, aber einem Rest
aristokratischer Tics, war ein Bündel politischer Widersprüche, und nicht
sein geringstes Verdienst bestand darin, sie stellvertretend für andere
gelebt und beschrieben zu haben. "Farm der Tiere" und "1984" sind so
universal, daß alle Parteien die Parolen auf dem Revers tragen können, von
Kalten Kriegern bis zu Globalisierungsgegnern. Der Name Orwell macht das
konservative Lager so kribbelig, daß die Tageszeitung "Die Welt" schon im
Januar seinen hundertsten Geburtstag feierte - fünf Monate zu früh.
Thomas Pynchons Kommentar, eines der seltenen Lebenszeichen des völlig
zurückgezogen lebenden Schriftstellers, ist von anderer Art: abwägend,
verständnisvoll, geschrieben mit Sinn für Dialektik und doppelte Böden.
Nicht umsonst ist Pynchon in der zeitgenössischen Literatur der Experte für
hochtechnisierte Kontrollimperien und deren paranoide Opfer. Deshalb
interessieren ihn an Orwell auch nicht statische Überzeugungen, sondern
Instinkte unter Wettkampfbedingungen. Die Frage richtet sich an den Leser:
Sehen unsere eigenen Gewißheiten in fünfzig Jahren noch so frisch aus, wie
wir heute vemuten?
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.05.2003, Nr. 103 / Seite 35
http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/Doc~EAF40C01BF5D74A
5880DE023BDF8B5962~ATpl~Ecommon~Scontent.html
(sorry for that url)
More information about the Pynchon-l
mailing list