VL TAZ Review I

Otto ottosell at yahoo.de
Tue Apr 13 07:56:51 CDT 2004


Rock and Roll will never die

Thomas Pynchons neuester Roman "Vineland" ist gerade in den USA
erschienen.

Barbara Koczauer

Thomas Pynchons dritter, 760 Seiten langer Roman Gravity's Rainbow erschien
1973 bei Viking Press. Am Ende des Buchs droht die Rakete, in deren
Geschichte der Aufstieg des militärisch-industriellen Komplexes aufgerollt
wird, mit einer Geschwindigkeit von mehr als einem Kilometer pro Sekunde in
einem von der Gravitation erzwungenen Bogen auf ein Kino in Los Angeles
niederzugehen. Es bleibt bloß noch Zeit, "nach dem Nachbarn neben dir zu
greifen oder dir selbst zwischen die kalten Beine zu fassen" (dt.Ausgabe:
Die Enden der Parabel, übersetzt von E.Jelinek und Th.Piltz, Hamburg 1981).
Seitdem hat man, abgesehen von einem längeren Vorwort zur Neuauflage seiner
in Slow Learner (1984) gesammelten Kurzgeschichten und einer Rezension des
Buches Die Liebe in den Zeiten der Cholera von Gabriel Garcia Marquez ('New
York Times Book Review` vom 10. April 1988) von Pynchon nichts mehr gehört:
kein Interview, gar nichts. Plötzlich, zur Überraschung aller, kommt Anfang
1990 sein neuer Roman Vineland heraus. What's America all about

Zwischen Gravity's Rainbow und Vineland liegen 17 Jahre, in denen der
ehemalige Gouverneuer von Kalifornien, "Ol` Raygan", Präsident der USA
geworden ist. Seinen Krieg gegen die Drogen hatte allerdings bereits Nixon
vor ihm begonnen. Gerichtet war er gegen die "Counterforce", wie Pynchon in
Gravity's Rainbow die Subkultur der sechziger Jahre nennt. "Was?" fragt
Nixon, als er im vierten Teil von Gravity's Rainbow von einer "Gegenmacht"
hört (Die Enden der Parabel). Die
"Counterforce" war schließlich an ihrer Analyse der Kategorien des
Marktesgescheitert: "Tcha, wenn die Gegenmacht nur besser wüßte, was diese
Kategorien verbergen, dann wär sie auch in einer besseren Position, Den
Menschen zu entwaffnen, zu entpenissen und zu entblößen... Sie sind ebenso
schizoid, ebenso doppelsinnig in der massiven Gegenwart von Geld wie
jeder andere von uns auch" (Die Enden der Parabel). Von der Subkultur der
sechziger Jahre hat die Reagan-Ära bekanntlich nicht mehr viel
übriggelassen. Es ist kalt geworden für die "sixties people", die in
Vineland von Südkalifornien zum Überwintern in den Norden des Bundesstaates
ziehen.

Während Pynchon beharrlich schwieg, entwickelten andere seine Themen weiter.
Jedoch hat niemand wie er die keineswegs bloß die USA betreffende Frage:
"What's America all about?" und das Problem der technologischen Entwicklung
im Zusammenhang behandelt. Zwar versuchen Schriftsteller wie William Gaddis
(Carpenter's Gothic, 1985), Joseph McElroy (Women and Men, 1986), Don
DeLillo (Libra, 1988) und andere der Zukunft der USA in die Karten zu sehen;
aber auf Gravity's Rainbow als Vorbild einer literarischen Verarbeitung der
neuesten Technologie beruft sich allein die Science-fiction der achtziger
Jahre, vor allem die sogenannten Cyberpunks, unter ihnen William Gibson und
John Shirley, um wenigstens zwei Autoren zu nennen.

Bei ihnen tritt die Biochemie des menschlichen Organismus an die Stelle des
bei Pynchon so wichtigen Themas der Ökonomie des politischen Körpers. Davon,
daß der vom System ernährte kybernetische Underground mit der "Straße"
sympathisiert, kann gar keine Rede sein. Zu kritiklos ist dessen Verhältnis
zu den in die neueste Technologie jeweils investierten Interessen. Pynchons
Romane werden deshalb ganz zu Unrecht von den Cyberpunkt-Autoren, deren
Romanfiguren in dem Syndrom von Wissenschaft, Technik und Information wie
die Maden im Speck leben, als literarische Modelle in Anspruch genommen.

Der affirmativen Rezeption technologischer Entwicklungen hat Pynchon in
Vineland von Anfang an vorgebeugt. Nicht die unentrinnbare Verstrickung des
Individuums in die Machinationen der Produktivkräfte, ein Thema, das in
Gravity's Rainbow am Beispiel des durch den Nationalsozialismus beförderten
weltweiten Aufstiegs von IG Farben entwickelt wird, sondern die Frage nach
dem Verhältnis des Einzelnen zum Staat und dessen repressiven Mitläufern
steht im Zentrum seines neuen Romans. Anders als die Cyberpunk-Autoren,
deren ästhetisch modische Endzeitvisionen sich im tendenziellen Zusammenfall
von Mainstream und Ghetto langsam zu erschöpfen scheinen, treibt Pynchon in
Vineland die Herrschaftsstruktur und die
Widerstandskultur weiter als je zuvor aneinander. Wer über diese Kluft
hinweg der anderen Seite den kleinen Finger reicht, wer deren Machthebel,
Schwanz, Pistole auch nur in die Hand nimmt, ist schon verloren.

Hantieren mit dem Ding
Statt von der Rakete, die als Symbol sowohl der Vernichtungskraft des
zivilisatorischen Fortschritts als auch der Befreiung vom (männlichen)
Todestrieb durch Gravity's Rainbow heult, geht in Vineland die sexuelle
Faszination durch das Hantieren mit dem "Ding" von einer fast archaisch
anmutenden Pistole aus. Pynchon, der ja ein Autor ist, der durch seinen
Roman weitreichende, keineswegs bloß akademische Diskussionen bestimmen
kann, spielt damit die ganze Auseinandersetzung um die Kybernetik, die sich
an Gravity's Rainbow angeschlossen hat, deutlich herunter. Spätestens seit
den achtziger Jahren ist es nur allzu klar geworden, wie sehr die
literarturwissenschaftliche Debatte über die in Gravity's Rainbow
verarbeitete technologische Entwicklung des 20.Jahrhunderts von der
politischen Frage nach Treue und Verrat abgelenkt hat.
(cont'd)

TAZ Nr. 3036 Seite 16-17 vom 17.02.1990
486 Zeilen von TAZ-Bericht barbara kroczauer




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