VL TAZ Review III
Otto
ottosell at yahoo.de
Tue Apr 13 08:03:05 CDT 2004
Part III:
Aus demselben Material - Filmfragmenten, alten Photos sowie
Computerdateien - und Erzählungen von Beteiligten lernt Prairie die
Geschehnisse kennen. Aber was sie zu sehen und zu hören bekommt, ist nur die
halbe Wahrheit. Die im Inneren der Rock'n'Roll-Republik aufbrechenden
Widersprüche bleiben zunächst verborgen: Die Angst nämlich, aus der
"national Family" ausgeschlossen zu werden, die ambivalenten Gefühle der
"sixties people" gegenüber ihren Weltkrieg-II-Eltern, die verworrenen
Vorstellungen darüber, was es der jeweils offiziellen Version nach heißt,
erwachsen zu werden.
Die Psychologie der "PR3er" läßt sich nur zu gut manipulieren und zu
allgegenwärtiger Paranoia hochkochen, und zwar so erfolgreich, daß es Brock
Vond gelingt, Informanten in die Szene einzuschleusen und Verräter
anzuwerben. Wie der Teufel hinter der armen Seele ist er hinter dem Geist
der Bewegung her, genau wissend, daß, wenn die Moral, das Vertrauen, die
Integrität erst einmal gebrochen ist, der Rest von selbst zerfällt. Im
letzten Film sieht Prairie, wie Weed Atman (etwa: grasrauchender Geist), der
antiautoritäre Held des Colleges, von allen Geistern verlassen wird, als er
merkt, daß seine Geliebte Frenesi ihn als FBI-Informanten denunziert hat. Er
ist leer und tot, noch bevor ihn die Kugel trifft.
Die Gemeinschaft der Untoten
Aber Pynchon läßt ihn weiterleben in der Gemeinschaft der Untoten Amerikas,
der Thanatoiden, deren Zahl sich seit dem Ende des Vietnamkrieges rasant
vergrößert hat. Nachdem Prairie wie alle anderen Figuren am Ende des Romans
zum großen Finale nach Vineland zurückgekehrt ist, nimmt sie den von ihrer
Mutter der Paranoia überantworteten Weed an die Hand und zieht mit ihm durch
Vineland. Als Brock Vond schließlich, sich an einem Militärhubschrauber
abseilend, doch noch nach Prairie greift, und ihr zuruft, er sei ihr
wirklicher Vater, kann sie ihn, anders als damals ihre Mutter, zur Hölle
schicken. Denn im Gegensatz zu Frenesi erinnert sie sich rechtzeitig daran,
wer sie ist: Alles, was Brock Bond nicht ist.
Auffällig ist, daß Pynchon in Vineland seine Themen viel enger an die
Personen seines Romans gebunden hat als vorher in Gravity's Rainbow. Zwar
tauchen bekannte Ideen wieder auf, so wenn Frenesi bei dem Zwangsneurotiker
Brock Vond das Gefühl hat, "in the Center of America" zu sein, weil er eine
Ordnung und Gewißheit zu verkörpern scheint, die sie bei Zoyd, auf seiten
der unstrukturierten Subkultur nicht finden konnte.
Doch ist eine Diskussion von Ordnung und Entropie, genauso wie etwa des
Verhältnisses der Romanfiguren zu den Medien, ausgeschlossen, ohne daß
zugleich die Frage aufgeworfen wird, auf welcher Seite denn die Figur in
einer bestimmten Zeit politisch steht. So ist Frenesis Verrat der
Rock'n'Roll -Republik schon in ihrem Umgang mit der Kamera angelegt. Sie
meint, die realen Verhältnisse ließen sich photographisch abbilden; sie
glaubt an die "ability of close-ups to reveal and devastete". Der mit einem
Joint vor der Glotze sitzende Zoyd hingegen täuscht sich nicht darüber, daß
die ausgetüftelten Realitätsversionen der medialen Ästhetik das Gegenteil
jeder sozialen Erfahrung darstellen. Er widersteht der Versuchung, Fiktion
und Realität zu vermischen: "...missing details but getting it basically,
mercilessly right." Ein kollektives Bewußtsein, das der US -Administration
ihre Verlautbarungen über Amerika glauben würde, läßt sich auf Marihuana und
LSD eben nicht gründen. Dazu mußten erst die synthetischen Drogen der
Chemiekonzerne fabriziert werden.
In dem Roman gibt es keine Figur, deren Beurteilung des Geschehens nicht von
der einen oder anderen Medienerfahrung vorbestimmt wäre. Die mediale
Konditionierung ihres Lebens ist das Grundproblem aller Protagonisten. Von
der Auflösung dieses Problems hängt es ab, wie sie sich verhalten in den
Fragen des Erwachsenwerdens, der sexuellen Solidarität, des kulturellen
Widerstands, der politischen Parteinahme, kurz: der Dialektik von Treue und
Verrat. Administrative Geschichtsfälschungen
Daß Vineland, obwohl politisch eindeutiger und damit unversöhnlicher,
dennoch weniger pessimistisch als alle vorhergehenden Romane Pynchons ist,
liegt daran, daß er seine Figuren erstmals aus dem Limbo zwischen der
paranoiden Konstruktion von Zusammenhängen einerseits und der völligen
Kontingenz andererseits herausholt und ihnen eine dritte Möglichkeit
entwirft: die bewußte Entscheidung über die eigenen politischen und
Lebenszusammenhänge, und damit für eine persönliche Geschichte, die der
administrativ betriebenen Geschichtsfälschung standhalten kann.
Die kulturellen Anstrengungen der Reagan-Administration haben sich vor allem
darauf gerichtet, die Erinnerung an die sechziger Jahre auszulöschen. Die
Videoclips konsumierenden Hacker verachten die Hippies, die eine Band live
auf der Bühne sehen wollen. Es stimmt, daß die Subkultur der sechziger Jahre
sich die technischen Implikationen der elektrisch verstärkten Gitarre nicht
klargemacht hat, so daß die Desillusionierung groß war, als die E-Gitarre
von der musikalischen Laser-Show verdrängt wurde. Aber wenn Pynchon, der
keineswegs ein Nostalgiker ist, Jimi Hendrix, die Doors, Jefferson
Airplaine,
Country Joe and the Fish, Led Zeppelin und andere Gruppen wieder ins
Gedächtnis ruft, dann eben deshalb, weil es sich nicht bloß um show biz
gehandelt hat.
"Still simmerin away with those same old feelings, I see figured you'd be
mellower by now, maybe some reconciliation with reality, I dunno."
"When the State withers away, Hector."
"Caray, you sixties people, it's amazing." (Vineland)
Thomas Pynchon: Vineland, Boston/Toronto/London: Little, Brown and Company,
1990, 19.95 US-Dollar
TAZ Nr. 3036 Seite 16-17 vom 17.02.1990
486 Zeilen von TAZ-Bericht barbara kroczauer
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