Die Science Faction des Thomas Pynchon

Otto ottosell at yahoo.de
Thu Jan 13 20:42:47 CST 2005


Bauhaus Universität Leipzig
Wintersemester 2003/04

Geschichte und Theorie der Kulturtechniken
Hauptseminar Prof. Dr. Bernhard Siegert

Thomas Pynchons Romane und Erzählungen gelten innerhalb der
literaturwissenschaftlichen Zunft als Paradefälle der literarischen
Postmoderne, an denen sich das Verschwinden des Autors, die Fragmentierung
des Erzählersubjekts und die Dissemination des Sinns vorbuchstabieren lässt.
Im Unterschied zu solchen immanenten Lektüren werden wir im Seminar die
Problematisierung des Subjekts, des Autors und der Narration im Werk
Pynchons als Echo auf die Geschichte der technischen Medien und der
wissenschaftlichen Diskurse entziffern. Pynchons Romanhelden - wie z. B.
Oedipa Maas, Herbert Stencil oder Tyrone Slothrop - finden im Unterschied zu
Kant - die transzendentalen Bedingungen der "Realität" (wie z. B.
Kausalität) nicht mehr im Subjekt, sondern in empirischen Technologien (wie
der Rakete), wissenschaftlichen Diskursen (wie der Thermodynamik) und
mathematischen Formeln. Raum, Zeit, Identität und Kausalität sind daher
keine anthropologischen Konstanten, sondern historische Variablen, die
abhängig sind von den Technologien, die Raum- und Zeiterfahrungen steuern
und Identität und Kausalität produzieren. Technologien, die die Stelle
transzendentaler Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung einnehmen, heißen
Medien - was der Grund dafür ist, dass Pynchons Romane für eine historische
Medienwissenschaft eine ungeheuer produktive Schnittstelle zum Archiv der
Wissenschafts- und Technikgeschichte darstellen.
Die den Lektüren, Recherchen und Interpretationen im Seminar zugrundegelegte
Herangehensweise begreift Pynchons Texte folglich als Schnittstelle zwischen
Archiv und Geschichte, fact und fiction - das heißt in einem Wort: als
faction. Der Wechsel von fiction zu faction bedeutet u. a. auch, dass die
Praxis der Lektüre von Pynchons Romanen immer wieder in eine Praxis der
Recherche übergeht, zu der die Paranoia und die Verschwörungstheorien der
Romanhelden selbst die Anleitung liefern.

Zum Semesterbeginn sollten folgende Texte von Thomas Pynchon gelesen sein:
"Unter dem Siegel". In: Thomas Pynchon, Spätzünder. Frühe Erzählungen.
Reinbek b. Hmb. 1985. Die Versteigerung von No. 49. Roman. Reinbek 1994
(Rowohlt-TB). Die Enden der Parabel. Roman. Reinbek 1989 (Rowohlt-TB). Zur
Einführung empfohlen: Bernhard Siegert/Markus Krajewski (Hg.): Thomas
Pynchon. Archiv, Verschwörung, Geschichte. Weimar: VDG 2003.
http://gonzo.uni-weimar.de/vlv/ausgabe.php?use_db=vlv8&id=465





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