Dichterseelen auf dem Schafott

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Sat Nov 18 07:39:43 CST 2006


Schiller-Nationalmuseum
Dichterseelen auf dem Schafott
Von Hubert Spiegel
10. November 2006
„Seid ihr das denn, diese unbestimmt verbrecherische Fratze auf eurem
Ausweis, deren Seele von der Regierungskamera geholt wurde, als die
Guillotine des Verschlusses fiel?", so fragt Thomas Pynchon und hat
damit die extremste Position bezogen, die ein Dichter gegenüber dem
Medium der Fotografie einnehmen kann. In einem einzigen Satz bringt
Pynchon die wichtigsten Vorbehalte des Künstlers gegen die Kamera
unter. Stimmen Mensch und Abbild wirklich überein, sind wirklich wir
die Fratzen, die uns auf unseren Paß- oder Urlaubsfotos anblinzeln?
Raubt uns der Bruchteil jener Sekunde, in der unsere Erscheinung aufs
Negativ gebannt wird, die Seele? Ist der Kameraverschluß gar ein
Schafott, auf das uns sinistre Mächte zwingen?

In Pynchons Büchern geht diese Macht von einer Staatsgewalt aus, die
sich mit Feuereifer dem Überwachungswahn hingibt, im Leben des
Schriftstellers ist es das von den Medien verstärkte öffentliche
Interesse an seiner Person, die der Schriftsteller nicht akzeptieren
will: Seit Jahrzehnten weigert er sich ebenso wie sein Kollege Jerome
D. Salinger, sich fotografieren zu lassen. Daß beide die Inszenierung
des Dichterbildes ablehnen, ist indes unweigerlich zu einer neuen
Inszenierungstechnik geworden, ob sie es wollen oder nicht. So fällt
Pynchons gebrochener Schatten über all jene Bilder seiner
Dichterkollegen, die seit heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach
zu sehen sind.

http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EF34E56BF61C94DCEB74B51C43962FED2~ATpl~Ecommon~Scontent.html




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