ATD Der Mäandertaler

Otto ottosell at googlemail.com
Wed Nov 29 03:27:00 CST 2006


Der Mäandertaler

Ordnung im Chaos: Thomas Pynchons neuer Roman ist sich selbst das größte Rätsel

26. November 2006

Am Tag, als das Phantom zum ersten Mal in der Öffentlichkeit sprach,
landete die Sonde Opportunity auf dem Mars. Und als sei die
Wirklichkeit einer seiner Romane, attackierten gleichzeitig
Rechtsextreme beim Weltwirtschaftsforum in Davos
Globalisierungsgegner, und in Tiflis wurde Micheil Saakaschwili als
georgischer Staatspräsident vereidigt. Es war der 25. Januar 2004, das
Phantom stand auf dem Bürgersteig vor einem Schild "Thomas Pynchon's
House: Come On In!", es trug eine Papiertüte mit Sehschlitzen über dem
Kopf, unter der sich eine Haartolle und vorstehende Schneidezähne
abzeichneten, es sprach in ein Mobiltelefon und lobte Marge Simpsons
ersten Roman: "Thomas Pynchon liebt dieses Buch fast so sehr, wie er
Kameras liebt." Dann rief das Phantom in den vorbeiströmenden Verkehr:
"Hey, hierher! Lassen Sie sich mit einem einsiedlerischen Autor
fotografieren. Und nur heute gibt's noch gratis ein Autogramm dazu!"
(...)

Worauf dieses Szenario hinauswill, das hat Louis Menand am klarsten
benannt. Es ist ein Inventar der Möglichkeiten zu einem bestimmten
historischen Moment, als Wissenschaft, Spekulation und Obskurantismus
noch ohne feste Hierarchien koexistierten, als die geopolitische
Ordnung sich neu formierte - bevor Europa in den Ersten Weltkrieg
trieb, bevor Relativitätstheorie und Quantenphysik die neuen
Paradigmen wurden. Es ist eine Geschichte von Ordnung und Chaos, eine
Rekonstruktion vergangener Zukunftsentwürfe, die längst verschollen
sind. (...)

"Against the Day" ist deshalb ein Roman, den man nicht einfach lesen
oder rezensieren kann. Er stellt einem ständig die Frage, wie man ihn
überhaupt lesen soll, wieviel Stoff man im Kopf behalten kann und muß,
um der Handlung zu folgen, ohne sich selbst in eine Pynchon-Figur zu
verwandeln. Aber noch gibt es ja keine Industrienorm für Romane wie
zur Herstellung und Auszeichnung von Karamelbonbons. "Against the Day"
zieht einen hinein und wirft einen wieder hinaus, er gleicht einem
Internet ohne Suchmaschinen, wo man bloß auf einen Link klickt und
sich weitertreiben läßt. Doch unterwegs passiert dem Buch dasselbe wie
dem Luftschiff der "Chums of Chance": Das Vehikel verwandelt sich "in
sein eigenes Reiseziel". Das ist vielen unerträglich, was man
verstehen kann; der Gemeinde verschafft es Stoff für die nächsten
Jahre. So wahrt der Unsichtbare seinen Nimbus: Er schreibt jetzt eher
pynchonesk - und weniger wie Thomas Pynchon.

PETER KÖRTE

Thomas Pynchon: "Against the Day". A Novel. The Penguin Press, New
York 2006. 1085 Seiten, 24 Euro. Die deutsche Ausgabe wird im Frühjahr
2008 bei Rowohlt erscheinen und laut Verlag einen Umfang von zirka
1800 Seiten haben.

http://tinyurl.com/y4q86r




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