Kugelblitz, Dynamit und Quaternionen
Dave Monroe
monropolitan at yahoo.com
Fri Jan 12 10:01:24 CST 2007
Kugelblitz, Dynamit und Quaternionen
Welch ein Ärger, welch ein Jubel: Thomas Pynchons
Roman Against the Day ist ein Meisterwerk und
spaltet die Kritik
Von Denis Scheck
Against the Day ist ein einzigartiges, das heißt
durch und durch originelles Buch: in seinen besten
Momenten emotional mitreißend und intellektuell
brillant, anrührend, aber nie sentimental, mal
todtraurig, mal brüllend komisch, bis zur letzten
Seite so unvorhersehbar wie eine Achterbahnfahrt im
Dunkeln.
Diese Unberechenbarkeit der Handlungsführung hat gute
Gründe. Wie in dem berühmten
Die-Rinder-des-Helios-Kapitel des Ulysses, in dem
James Joyce die Geschichte und Evolution der
englischen Sprache von ihren Anfängen bis in die
Gegenwart des Dublin von 1906 nacherzählt, lässt auch
Pynchon in seinem neuen Roman eine Entwicklung wie im
Zeitraffer vor dem Auge des Lesers stattfinden.
Against the Day ist unter anderem eine kurze
Geschichte der Genreliteratur, also von
Science-Fiction und Fantasy, dem Abenteuer-, Horror-,
Western- und Detektivroman. Pynchon imitiert und
persifliert die Großmeister dieser Genres von Jules
Verne über H.P. Lovecraft, Edgar Rice Burroughs, Jack
Williamson, Isaac Asimov und Robert A. Heinlein bis zu
Zane Grey, überbietet und übertrumpft sie an
phantastischen Einfällen und unterläuft so souverän
alle Erwartungshaltungen, wie denn ein historischer
Roman, dessen Handlung im Wesentlichen zwischen der
Weltausstellung von Chicago 1893 und 1914 spielt,
heute aussehen könnte.
Wer die ersten amerikanischen Kritiken zu Against the
Day gelesen hat, war darauf nicht unbedingt
vorbereitet: Für Michiko Kakutani, die ob ihrer oft
moralinsauren Fehlurteile schon vor zehn Jahren von
Philip Roth in seinem Roman Sabbaths Theater
veralberte Stammkritikerin der New York Times, ist
der neue Pynchon ein aufgeblähtes Puzzel, prätentiös,
aber nicht provokativ
kompliziert, aber nicht
komplex. Louis Menand eröffnet im New Yorker seinen
Verriss gleich mit der Frage: Was hat er sich bloß
dabei gedacht? Und Adam Kirsch in der New York Sun
schreibt in einem Totalverriss nicht nur den Roman
(bis zum Bersten mit Merkwürdigkeiten vollgestopft),
sondern gleich den ganzen Autor ab: Thomas Pynchon
ist nicht länger der Romancier, den wir brauchen.
Auffällig dabei ist nur, dass die Urteile über den
neuen Pynchon um so harscher und übellauniger
ausfallen, je früher sie veröffentlicht wurden je
größer folglich der Zeitdruck der Rezensenten war,
denen der Verlag Penguin erst 14 Tage vor dem
offiziellen Erscheinen von Against the Day am 20.
November 2006 Fahnen zur Verfügung gestellt hatte.
1085 engbedruckte Seiten, Hunderte von Charakteren,
eine von keinem noch so versierten Leser voraussehbare
Handlung, die sich noch dazu in seitenlangen Exkursen
auf entlegene Wissensgebiete wie die Quaternionen als
Erweiterung der reellen Zahlen oder die optischen
Eigenschaften des auch als Doppelspat bekannten
Islandspats aus der Familie der Calciten ergeht: Da
kann im schnelllebigen Tagesgeschäft der
Literaturkritik schon mal schlechte Laune aufkommen.
Inzwischen sind acht Wochen verstrichen, die Feiertage
samt ihren Festtagsbraten und Familienritualen verdaut
Pynchon-Leser erinnern sich vielleicht von Mason &
Dixon her an die allem Geschichtenerzählen
förderliche Atmosphäre der Weihnachtszeit , und der
Rauch über dem amerikanischen Schlachtfeld um Against
the Day beginnt sich zu lichten. Und dabei kommt
durchaus Interessantes in den Blick.
Aus den ersten amerikanischen Kritiken zum neuen
Pynchon sprach eine verblüffend aggressiv vorgetragene
Antiintellektualität und ein mit Händen zu greifender
Überdruss an einer Literatur, die mit der Sprache
selbst experimentiert und komplexere Formen wagt, als
man sie aus den im Jahresabstand vorgelegten
Alterswerken von Philip Roth oder John Updike kennt.
Ohnehin ist der amerikanische Zeitgeist augenblicklich
allem Innovativen in der Literatur besonders wenig
zugetan so er es denn je wirklich war. Die
Korrekturen, der spektakuläre Familienroman von
Jonathan Franzen, auch kommerziell einer der
erfolgreichsten Romane der letzten zehn Jahre, ist im
Vergleich zu den Werken eines William Gaddis, Don
DeLillo oder eben Thomas Pynchon vor allem eines:
kreuzbrav konventionell erzählt.
Franzen selbst hat in einem bemerkenswert luziden
Essay seinen Abfall vom Glauben an die amerikanische
Postmoderne mit ihren Hausheiligen wie William Gaddis
(Mr. Difficult, so Franzen) beschrieben. In ihren
Kritiken vollziehen Pynchons Gegner diese Konversion
nun nach: ein Abfall für alle.
Den literarischen Neoprimitiven muss ein Buch wie
Against the Day freilich ein Schlag ins Gesicht
sein. Es atmet noch ganz jenen hochmodernen Geist der
quasi-olympischen Herausforderung, der permanent an
den Horizont des Möglichen verschiebbaren
literarischen Bestleistungen oder eine Spur weniger
hochtrabend formuliert: des puerilen
Wer-pisst-am-höchsten-gegen-die-
Wand. Dieser Geist hat uns James Joyces Ulysses
beschert und Arno Schmidts Zettels Traum aber auch
unzählige epigonale Werke, die zur Quälerei ihrer
überforderten Autoren wie Leser wurden.
Davor bewahren Pynchons Against the Day drei Dinge:
erstens das politische Engagement dieses Romans, der
auch als Abgesang auf den Anarchismus als politische
Alternative und als erstaunlich kalt erzählter Roman
über Terrorismus zu lesen ist. Aktueller als hier hat
Pynchon nie geschrieben. Mir jedenfalls ist keine
literarisch überzeugendere Reaktion auf die
Terroranschläge vom 11. September 2001 bekannt als
Pynchons poetisch eindringliche Beschreibung New Yorks
durch einen amoklaufenden Berggeist. What It Means To
Be An American wird auf Seite 1076 einem Jungen als
Aufsatzthema gestellt. Der Schüler, der die
Niederschlagung des Streiks der Minenarbeiter in
Colorado am eigenen Leib erfahren hat, löst die
Aufgabe in einem Satz: Es bedeutet zu tun, was man
einem sagt, zu nehmen, was einem angeboten wird, und
nicht zu streiken, damit man nicht von ihren Soldaten
erschossen wird. Diesen Blick in den Spiegel muss man
als Amerikaner erst einmal aushalten.
Zweitens hat Thomas Pynchon auf seine Weise mit
Against the Day selbst einen Familienroman
geschrieben. Auch wenn die Handlung in weiten Bögen
ins Innere Asiens, nach Mexiko und Albanien, London,
Paris und Venedig, in ein Irrenhaus nach Göttingen, zu
den Tatzelwürmern in den Schweizer Alpen und in einem
Sandschiff unter, ja, wirklich unter die Wüste führt:
Letztlich erzählt Pynchon von den vier Kindern des
amerikanischen Anarchisten Webb Traverse, der als
Kieselguhr Kid im Wilden Westen mit Dynamit für
gerechtere Verteilung und Eigentumsverhältnisse sorgen
möchte und dadurch ins Visier des Erzkapitalisten
Scarsdale Vibe gerät, der ihn durch zwei
Auftragskiller beseitigen lässt. Seit dem Graf von
Monte Christo wurde nicht mehr so genüsslich von
Rache erzählt.
Drittens und das gerät bei all dem Gewese um die ach
so großen Anforderungen, die dieser Autor angeblich an
seine Leser stellt, leider immer etwas aus dem Blick
ist Pynchons vielleicht größte Stärke sein Humor.
Gewiss, Quaternionisten als die Juden der Mathematik
zu bezeichnen, wird nicht bei jedem Schenkelklatschen
auslösen. Auch darf man, zumindest als
deutschsprachiger Leser, von den in Göttingen, also im
Land of Lederhosen, so Pynchon, spielenden Passagen
ein wenig enttäuscht sein. Aber der Henry James
lesende Hund Pugnax, kommunizierende Kugelblitze und
Tornados namens Thorvald sowie die herrlich albernen
Songs tragen über manche Durststrecke hinweg.
Das spektakulärste Kabinettstück dieses in seinem
überbordenden Reichtum an eine phantastische
Wunderkammer erinnernden Romans ist aber Thomas
Pynchons Referenz an die technikbegeisterte
Abenteuerliteratur der Jahrhundertwende: die Chums of
Chance, fünf Luftschiffer an Bord der
Inconvenience. Ihnen gönnt Pynchon das vielleicht
schönste Happy End der modernen Literatur. They fly
toward grace, heißt der letzte Satz des Romans.
Diesen Flug in Richtung Gnade sollte kein Leser
versäumen.
Thomas Pynchon: Against the Day. The Penguin Press,
New York 2006. 1085 Seiten, 35 USD (Listenpreis).
http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/11.01.2007/3013820.asp
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