Gegen den Tag

Otto ottosell at googlemail.com
Fri May 2 08:14:01 CDT 2008


Meisterwerk voll skurrilem Humor
Thomas Pynchon: "Gegen den Tag". Rowohlt Verlag 2008, 1596 Seiten

Thomas Pynchons "Gegen den Tag" ist ein Meisterwerk, wie man es als
Literaturkritiker vielleicht nur einmal in seinem Leben annoncieren
darf. Der mittlerweile 70-jährige Thomas Pynchon lebt seit Jahrzehnten
in selbstgewählter Anonymität, gibt keine Interviews, veranstaltet
keine Lesungen, nimmt an keinen Paneldiskussionen teil, sondern
vertraut ganz auf die Stärke seiner Bücher. Und das kann er auch.

Warum ist "Gegen den Tag" ein Meisterwerk? Lassen Sie mich nur drei
Gründe nennen. Erstens: Aktueller als hier hat Pynchon nie
geschrieben. Er schildert ein Land des ungezähmten globalen
Raubritterkapitalismus, ein Land, in dem jede politische Hoffnung
stirbt. Diesen Blick in den Spiegel muss man erst einmal aushalten.

Zweitens ist Thomas Pynchon auf seine Weise mit "Gegen den Tag" ein
mitreißender Familienroman gelungen, in dem es um Mord, Rache und
Eifersucht geht: und das alles ganz unsentimental, ohne Kitsch und
doch zu Tränen rührend.

Auch wenn die Handlung in weiten Bögen ins Innere Asiens, nach Mexiko
und Albanien, London, Paris und Venedig, in ein Irrenhaus nach
Göttingen, zu den Tatzelwürmern in den Schweizer Alpen und in einem
Sandschiff unter, ja, wirklich unter die Wüste führt: Letztlich
erzählt Pynchon von den vier Kindern des amerikanischen Anarchisten
Webb Traverse, der als "Kieselguhr Kid" im Wilden Westen mit Dynamit
für gerechtere Verteilung und Eigentumsverhältnisse sorgen möchte und
dadurch ins Visier des Erzkapitalisten Scarsdale Vibe gerät, der ihn
durch zwei Auftragskiller beseitigen lässt. Seit dem "Graf von Monte
Christo" wurde nicht mehr so genüsslich von Rache erzählt.

Und drittens und nicht zuletzt ist Thomas Pynchons vielleicht größte
Stärke in diesem Buch sein herrlich skurriler Humor. Gewiss,
Quaternionisten als "die Juden der Mathematik" zu bezeichnen, wird
nicht bei jedem Schenkelklatschen auslösen. Auch darf man, zumindest
als deutschsprachiger Leser, von den in Göttingen, also im "Land of
Lederhosen", so Pynchon, spielenden Passagen ein wenig enttäuscht
sein. Aber der Henry James lesende Hund Pugnax, kommunizierende
Kugelblitze und Tornados namens Thorvald sowie die herrlich albernen
Songs tragen über manche Durststrecke hinweg.

Das spektakulärste Kabinettstück dieses Romans ist aber Thomas
Pynchons Verneigung vor der technikbegeisterten Abenteuerliteratur der
Jahrhundertwende: seinen jugendlichen Luftschiffern an Bord der
"Inconvenience", den "Freunden der Fährnis", gönnt Pynchon das
vielleicht schönste Happy End der modernen Literatur.

Man kann diesen Roman nicht nebenbei lesen. "Ganz oder gar nicht"
lautet der stillschweigende Untertitel des neuen Pynchon. Das allein
schon unterscheidet "Gegen den Tag" von 99 Prozent der 90.000
Neuerscheinungen, die in diesem Jahr im deutschsprachigen Raum
erscheinen werden.

Rezensiert von Denis Scheck:

listen:
http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2008/05/02/drk_20080502_1432_19dcd919.mp3

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/778509/




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