Ermittlungen eines Kiffers im ARPAnet

Otto ottosell at googlemail.com
Sat Nov 7 23:50:52 CST 2009


Ermittlungen eines Kiffers im ARPAnet

08.11.2009

von Marcus Hammerschmitt

Es mag ein wenig seltsam wirken, eine Kolumne zur Science-Fiction mit
Betrachtungen über einen Roman zu beginnen, der sich mit der
Vergangenheit beschäftigt. Aber Pynchons neuestes Werk "Inherent Vice"
ist, wie auch viele andere seiner Bücher, auf gewinnbringend
vertrackte Weise Science-Fiction.

Die späten 1960er, ein ständig bekiffter Privatdetektiv, seine
ehemalige Flamme, die mittlerweile mit einem verwirrten
Immobilienmakler durch die Gegend zieht, ein planloser Polizist, der
dem planlosen Privatdetektiv ein ebenbürtiger Spiegel ist, eine
möglicherweise mit Heroinhandel befasste Verschwörung namens "Golden
Fang", rechtsradikale Biker und Aushilfspolizisten, Charles Manson,
die Surferkultur Kaliforniens: Das sind die Ingredienzen, die Pynchon
in seinem neuen Roman zusammenkocht.

Oraler Konsum von Sprengstoffen

Wie nicht anders zu erwarten, wird daraus eine ziemlich unterhaltsame
Vaudeville-Revue, die mit Absurditäten nicht geizt, wenn auch der
Roman das Niveau an amüsanter Verschwurbeltheit, das man von Pynchon
gewohnt ist, nicht erreicht. Wer zum Beispiel auf irgendeine Weise
eine Fortsetzung des Vorgängers "Against the Day" erwartet, wird sich
in mancherlei Hinsicht enttäuscht sehen. Es ist allerdings logisch
(und in gewisser Weise auch beruhigend), dass Pynchon einen Stoff in
zwei Jahren nicht genauso stark verdichten kann wie einen anderen in
sieben Jahren, insofern ist der Zuschnitt von "Inherent Vice" nur
angemessen.

Aber eines haben die beiden Romane doch gemeinsam: die spezielle Art
der Verschränkung von Fiction und Science, die man gut auch als ein
Markenzeichen Pynchons verstehen kann. Wenn in "Against the Day" eine
bizarre Truppe von Luftschiffern in die hohle Erde geschickt wird,
paranormale Waffen bei versuchten Attentaten zum Einsatz kommen,
psychedelische Sprengstoffe oral konsumiert werden und sich
Ozeandampfer durch Übertritte in eine Parallelwelt in Schlachtschiffe
verwandeln (oder eher in beiden Konfigurationen parallel existieren),
dann befindet man sich genau in diesem seltsamen Kontinuum von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Standardrealität und
Alternativgeschichte, in dem Pynchon seit seinem Romanerstling "V" zu
Hause ist und dem sich intelligente Science-Fiction-Leser so schwer
entziehen können.
Schnüffeln im ARPAnet

Wenn Science-Fiction die Zukunft heute darstellen will, dann geht es
Pynchon immer auch um die Vergangenheit der Zukunft, und diese
Verschränkung genau ist es, die er auch wieder in "Inherent Vice"
betreibt. Seinen Kifferhelden Larry "Doc" Sportello lässt er zum
Beispiel mit Hilfe des ARPAnets (ein direkter Vorläufer des Internets)
Nachforschungen anstellen. Dabei dehnt er die Realität nur ein
bisschen: Die vier ersten Knoten des ARPAnets waren immerhin 1969
online.

Das Ergebnis ist, dass man sich in einen Netz- und
Überwachungsthriller der Jetztzeit oder der nahen Zukunft versetzt
sieht. Wenn kalaschnikowbewaffnete Vigilanten mit
weihnachtsbaumdekorierten Skimasken auf dem Kopf in der Gegend
herumballern, denkt man sofort an die ultrazynischen Filme Taranatinos
und nicht etwa an die "Straßen von San Francisco" und "Colombo". Das
"Chryskylodon-Institut", in dem angeblich endgelangweilten
superreichen Neurotikern therapeutisch auf die Sprünge geholfen werden
soll, ist eine alberne Fassung des schrecklichen Hailsham-Internats
aus Kazuo Ishiguros "Never Let Me Go", es erinnert vielleicht auch von
fern an den Film "Die Insel" (Michael Bay, 2005) aber ganz gewiss
nicht an Ken Keseys Roman "Einer flog über das Kuckucksnest" aus den
60ern.

Flimmernde Zeit

Die erzählte Zeit des Romans beginnt auf diese Art zu flimmern.
Einerseits ist sie mit Hippie-Slang und Hippie-Folklore genau
markiert. Als Beispiele seien nur der ständige Gebrauch des Adjektivs
"groovy", die ewige Kifferei und die allgegenwärtige Afrofrisur
genannt. Andererseits manifestieren sich die Gegenwart der
"Nullerjahre" oder gar ihre imaginierten Zukünfte auf manchmal
amüsante, manchmal beunruhigende Weise.

Es ergibt sich die reizvolle Konsequenz, dass "Inherent Vice" sehr
viel zeitnäher wirkt als der eng damit verwandte Pynchon-Roman
"Vineland" (1990), zu dem es ja in gewisser Weise ein Prequel
darstellt, das aber zehn Jahre später spielt. "Inherent Vice" richtet
sich in einem seltsamen historischen Pararaum ein, als wolle Pynchon
den Leser mit einer literarischen Beweisführung zu der These foppen,
die Sixties hätten überhaupt nie richtig aufgehört. Als ich Anfang der
90er in San Francisco war, wurden dort Handzettel verteilt, auf denen
zu lesen war, dass die 90er in Wirklichkeit die 60er seien. Pynchon
leistet sich den Spaß, dieser Idee 20 Jahre später Leben einzuhauchen,
wenigstens für die Länge eines Kriminalromans. Ein großes Buch? Nein.
Wie gesagt, "Inherent Vice" kann im Traum nicht mit "Against the Day"
mithalten, selbst "Vineland" hat ihm einiges an Komplexität und
poetischer Kraft voraus.

Aber Pynchon wäre nicht Pynchon, wenn er dem Kulturbetrieb und seinen
Erwartungen nicht den Mittelfinger zeigen würde. Die Experten mögen
eine finale Anstrengung hin auf den Nobelpreis erhofft haben, eine Art
"Finnegans Wake" des frühen 21. Jahrhunderts. Pynchon weiß, dass er in
dieser Hinsicht sein Soll längst übererfüllt hat, und "Inherent Vice"
kann auch als eine subtile Botschaft an die Gemeinde gewertet werden,
dass sie sich entspannen sollte. Er lädt auf seine alten Tage die
Leser zu einem Spaß ein. Und den kann man mit "Inherent Vice" auch
haben.

http://futurezone.orf.at/stories/1630993/




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