Energie und Entropie

Otto ottosell at googlemail.com
Mon Oct 10 04:20:41 CDT 2011


Opening Speech to the new students at the beginning of their first semester:

Energie und Entropie oder: Ein Plädoyer für möglichst häufiges
Scheitern im Studium
Redner: Prof. (HSG) Dr. Sascha Spoun
Ort und Anlass: Eröffnung der Startwoche 2011
Datum: 6. Oktober 2011

Der Schriftsteller Thomas Pynchon schrieb einmal eine Kurzgeschichte,
die den Schlüssel zum Glück im Studium enthält. Ich erzähle Sie Ihnen
gleich. Aber erst einmal erzähle ich Ihnen ganz kurz etwas über diesen
Thomas Pynchon. Vielleicht kennen Sie Pynchon schon aus der Schule: Er
ist ein amerikanischer Kultautor, so berühmt, dass es sogar drei
Simpsons-Folgen über ihn gibt. Er ist selbst für die
Literaturwissenschaft ein Mysterium: Keiner weiß, wie er aussieht, und
es ist auch schon vorgekommen, dass er fünfzehn Jahre lang geschwiegen
hat. Dabei hat er die Literatur der Gegenwart so stark verändert und
beeinflusst wie kaum ein anderer Autor. Man kann Pynchon mit Fug und
Recht ein Genie nennen: Er ist bewandert auf vielen wissenschaftlichen
Gebieten, von der Raketenforschung über die Geschichte bis hin zur
Philosophie. Aus der immensen Vielfalt seiner intellektuellen
Interessen zieht der die Ideen für sein literarisches Werk – ein Werk,
das an Komplexität und Witzigkeit kaum zu überbieten ist.

Entropie
In ganz jungen Jahren schrieb Thomas Pynchon einmal eine
Kurzgeschichte mit dem Titel „Entropie“. In dieser Geschichte geht es
um eine Party, die in ein heilloses Chaos ausartet. Könnte von Ihnen
stammen, oder? Und oben in dem Haus, in dem die Party stattfindet,
macht sich ein Mann, Callisto, Gedanken über Entropie – genauer, über
den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.

Dieser Satz besagt, dass alle geschlossenen Systeme Entropie
produzieren. Was Entropie genau ist, das müssen wir hier zum Glück
nicht erörtern. Uns reicht es zu wissen, was die Produktion von
Entropie bewirkt: Nämlich, dass, in den Worten Callistos, alle
geschlossenen Systeme „sich spontan zum Zustand der Größeren
Wahrscheinlichkeit hin entwickeln“. Oder anders ausgedrückt: Jede
Party tendiert zum Chaos. Das ist quasi ein physikalisches Gesetz.

Vielleicht hoffen Sie an dieser Stelle schon, dass dies meine Worte
für Ihren Studienbeginn sind: Aufgepasst, jede Party tendiert zum
Chaos. Aber das erfahren Sie natürlich schon selbst. Und Sie werden
sich an der Beweisführung für diese wasserdichte physikalische Formel
während Ihres Studiums an der Leuphana vielleicht noch das eine oder
andere Mal ganz freiwillig beteiligen.
Alles im Universum strebt von der Verschiedenheit weg hin zur
Gleichheit Ich hatte Ihnen aber im ersten Satz meiner Rede
versprochen, Ihnen den Schlüssel zum Glück im Studium zu verraten. Und
auch wenn ich Ihnen für die nächsten Jahre von Herzen viele gute Feste
wünsche, halte ich Partys allein doch noch nicht für den Schlüssel zum
Glück. Was also hat nun der von Pynchon in der Geschichte illustrierte
zweite Hauptsatz der Thermodynamik mit Ihrem persönlichen Weg, mit dem
Gelingen Ihres Studiums zu tun?

Greifen wir den Gedanken Callistos noch einmal auf: Alle geschlossenen
Systeme entwickeln sich spontan hin zum Zustand der Größeren
Wahrscheinlichkeit. Das bedeutet, dass nicht nur jede Party zum Chaos
tendiert. Es ist nämlich so, wie Callisto ausführt, dass jedes
„geschlossene System – Galaxis, Wärmekraftmaschine, Mensch, Kultur,
was immer“ zur Unstrukturiertheit und zum Durcheinander tendiert. Und
weil durch die Produktion von Entropie die Energie relativ gleichmäßig
verteilt wird, strebt jedes Teilchen im Universum von der
Verschiedenheit weg hin zur Gleichheit. Alles in allem treibt uns also
die Entropie, so Callisto, „von Differenziertheit zu Einförmigkeit,
von wohlgeordneter Individualität zu einer Form von Chaos“.
(...)
http://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Aktuell/images/Startseitenbeitraege/startwoche2011_spoun.pdf



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