(np) Wie pop ist noch deutsche Literatur?

Kai Frederik Lorentzen lorentzen at hotmail.de
Thu May 12 05:41:35 CDT 2016


A radio feature for those who are interested in German literature and 
able to understand the language!

" ... Ich würde ihnen von Deutschland erzählen, von dem großen Land in 
Norden, von der großen Maschine, die sich selbst baut, da unten im 
Flachland. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den 
Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren 
müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik 
hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz 
klein bisschen schlechter. Und dass die Auserwählten nur durch den 
Glauben weiter leben können, sie würden es ein bisschen besser tun, ein 
bisschen härter, ein bisschen stilvoller.

   Von den Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit 
ihren sauber ausrasierten Nacken, von den Raketen-Konstrukteuren, die 
Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, 
fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, 
von den Geschäftsleuten mit ihren schlecht sitzenden Anzügen, von den 
Gewerkschaftern, die immer SPD wählen, als ob wirklich etwas davon 
abhinge, und von den Autonomen mit ihren Volxküchen und ihrer Abneigung 
gegen Trinkgeld.

   Ich würde auch erzählen von den Männern, die nach Thailand fliegen, 
weil sie so gerne mächtig und geliebt wären, und von den Frauen, die 
nach Jamaica fliegen, weil sie ebenfalls mächtig und geliebt sein 
wollen. Von den Kellnern würde ich erzählen, von den Studenten, den 
Taxifahrern, den Nazis, den Rentnern, den Schwulen, den 
Bausparvertrag-Abschließern, von den Werbern, den DJs, den 
Ecstasy-Dealern, den Obdachlosen, den Fußballspielern und den 
Rechtsanwälten ... "

Christian Kracht: Faserland [1995], pp. 152-153


http://www.br.de/radio/bayern2/kultur/nachtstudio/pop-literatur-thomas-palzer-rainald-goetz-meinecke-witzel-lottmann-100.html
http://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/manuskripte-nachtstudio-576.html

 > ... Lob der Gegenwart

Popkultur erteilt dem Elitarismus eine Absage. Wobei Popkultur dabei 
natürlich selbst einem Vorurteil über das aufsitzt, was als elitär 
erachtet wird. Elitär ist ja etwas nicht allein deshalb, weil die 
Lektüre der Konzentration bedarf. Popliteratur ist jedenfalls ein 
Begriff, der sich abheben will von dem herkömmlicher Literatur, von 
deren Ernst, deren Schwere, deren ewigem Zuspätkommen und deren 
unterstellter oder tatsächlicher Traditionsversessenheit. Popliteratur 
will /schnell /sein, aktuell, upgedated – und lehnt jedes Erbe ab, jede 
Belastung, will voraussetzungslos sein.

Die Popliteratur war auch schon mal jünger

In der nun bald sechzigjährigen Geschichte der deutschen Popliteratur 
ist viel passiert – von der /Beat Generation/ bis zu Christian Kracht; 
von Jack Kerouac bis zu /Null/, einem längst vergessenen 
Webliteraturprojekt von Thomas Hettche um die Jahrtausendwende; von 
/Schimmernder Dunst über Coby County/ von Leif Randt bis zu /Johann 
Holtrop/ von Rainald Goetz. Rolf Dieter Brinkmann, Jörg Fauser und 
Hubert Fichte zählen zur ersten Popliteratur-Fraktion - und sind tot. 
Viele Vertreter der zweiten Popliteratur-Generation haben inzwischen die 
sechzig erreicht oder werden es demnächst: Thomas Meinecke, Andreas 
Neumeister, Franz Dobler, Rainald Goetz und andere. Wird Popliteratur zu 
etwas, was sie nie sein wollte: alt? Geht es weiter? Und wenn ja, wie? ... <


Do note in this context that Kracht started to refuse the label 'pop 
literature' by the time he published his second novel, "1979", which 
took place in autumn 2001.


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