Reading high literature as an act of resistance in digital times

Kai Frederik Lorentzen lorentzen at hotmail.de
Mon Dec 16 12:39:43 UTC 2019


According to this article, students, "the best and the most passionate", are re-discovering the reading of difficult novels like "Finnegans Wake" or "Gravity's Rainbow"! As an act of resistance against digitalization & its discontents (like information overload or the constant constraints to judge & to choose). Focusing the concrete book in its materiality offers a concrete & sensual experience in a complex setting: "Secular contemplation". Which implies "l'art pour l'art" instead of professional instrumentalization. Complex literature doesn't force the reader to adopt certain ideological or political positions; the term "resistance" does not refer here to the - allegedly - 'critical societal function of literature' but to the immediate experience of the reader who is confronted with a text which doesn't allow an easy understanding. "The one who reads  - and not only casually or to bridge empty moments, but with a focus in terms of literary tradition - keeps open a sphere of freedom". A yearning for tangible experience which enforces concentration is inducing this renaissance of passionate reading. At least the professors - Joao Cezar de Castro Rocha (Rio de Janeiro) & Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford) - have observed this among their students. Maybe it's true ...

+ ... Mittlerweile jedoch lässt sich in ganz verschiedenen Kontexten beobachten, wie die besten und leidenschaftlichsten Studenten einer neuen Generation die Literatur wieder für sich entdecken.

Im Gegensatz zu ihren Dozenten, denen mehr denn je daran liegt, eine nüchterne «Professionalität» an den Tag zu legen, stilisieren die jungen Lese-Enthusiasten ihr Verhalten, oft sogar ihr Aussehen gerne mit romantischen Attributen aus der Zeit der Flower-Power und kultivieren eine Nähe zu den lebendigen Szenen der literarischen Produktion. Dabei entwickeln sie helle Begeisterung gerade für
jene Werke, welche die Professoren aus dem Horizont möglicher Lehrgegenstände ausgeschlossen hatten, weil es ihnen nicht gelingen wollte, deren formale und inhaltliche Komplexität in eindeutige Sinngestalten der moralischen und politischen Bildung überzuführen.

Das «l’art pour l’art», also die «Literatur um ihrer selbst willen», steht so plötzlich wieder im Vordergrund. Und als unerträglich gilt mit einem Mal jeglicher Ansatz zu ihrer Instrumentalisierung.

Kein Text wird in diesem Zusammenhang mit intensiverer Bewunderung genannt als James Joyce’ «Finnegans Wake», wo Wort für Wort die alltagssprachlichen Konventionen verfremdet und in ein neues, den Leser nicht nur auf den ersten Blick überwältigendes Idiom umgearbeitet werden. Ungeachtet der ungestümen Sympathien des Autors für den deutschen Nationalsozialismus faszinieren ähnlich die Prosarhythmen der Romane von Louis Ferdinand Céline, deren Handlungsstrukturen sich in der Komplexität ihrer oft mikroskopischen Beschreibungen verlieren. Oder die Heraufbeschwörung des brasilianischen Inlands in Joao Guimaraes Rosas Epos «Grande Sertao: Veredas» mittels einer Sprache, deren dialektalen Voraussetzungen nichtmuttersprachliche Leser kaum genügen können. Und schliesslich auch die Meisterromane des amerikanischen Autors Thomas Pynchon, vor allem «Gravity’s Rainbow», wo historische Details und technisches Wissen eine spannungsvoll undurchdringliche Verbindung eingehen.

Wohl weil sie mit dem dominierenden Geschmack ihrer je eigenen Zeiten nicht synchronisiert waren, hat keiner dieser ganz grossen Autoren je den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Doch immerhin ehrte das zuständige Komitee vor wenigen Monaten mit Peter Handkes Arbeit den Entwicklungsprozess einer literarischen Sprache, die ebenfalls zur Überforderungstradition der Moderne gehört.

Für den Versuch, die bestimmende Modalität der fast plötzlich vollzogenen Rückkehr zu Texten mit Literatur-immanenten Ambitionen zu beschreiben, schlagen wir den Begriff «Widerstand» vor. Er nimmt in diesem Kontext eine Bedeutung an, die sich gegenüber der einst von Adorno unterstellten drastisch verschoben hat. «Widerstand» leisten die Texte nun nicht mehr im Sinn einer kritischen Funktion, die sie in der Gesellschaft erfüllen sollen; vielmehr bezieht sich das Konzept jetzt auf das unmittelbare Erleben des Lesers. Wer liest – und zwar nicht nur gelegentlich oder zur Überbrückung leerer Momente, sondern mit einem Fokus im Sinne der literarischen Tradition –, hält sich einen Freiheitsraum offen, den ihm niemand streitig machen kann.

Denn statt die Texte von der vermeintlich höheren Ebene des Bewusstseins aus zu rezipieren und womöglich über sie zu verfügen, steht ihnen der Leser nun in der einen Wirklichkeit gegenüber, zu der sowohl ihre Materialität als auch sein eigener Körper gehören, und diese Welt der Körper wie der Textmaterialität ist eine gegenüber ihrem Aussen geschlossene Welt. Hier spürt der Leser den intellektuellen Widerstand der sprachlichen Einzigartigkeit literarischer Texte (zum Beispiel den Widerstand der Bedeutungsdimensionen oder der Syntax von Friedrich Hölderlins «Rheinhymne») gegenüber allen individuellen Aneignungsbemühungen und zugleich den Widerstand ihrer dreidimensionalen Konkretheit (etwa der Versformen oder der Rhythmen im Vortrag des Gedichts).

Am besten beleuchtet die neue Modalität des «Widerstands» von Literatur wohl der Gebrauch desselben Worts unter Physikern und Spezialisten für elektrische Systeme. Dort steht es für strukturelle und materielle Bedingungen, die sich dem Fluss des Stroms entgegensetzen. Mit Widerstand in diesem Sinn als Vorzeichen erscheinen etwa poetische Formen nun als eine Dimension, die das Verstehen weiter erschwert, statt Bedeutungsstrukturen klärend nachzuvollziehen oder gar zu unterstreichen, wie man mit dem berühmtem Gymnasiumssatz unterstellte, dass die Formen der Lyrik immer ihrem Inhalt entsprechen.

Wie kann man aber erklären, dass ein solches Leser-Erleben permanenter Bemühung, die kaum je an ein Ziel oder zu einer Lösung gelangt, der Literatur als Ersatz ihres verlorenen Glanzes eine neue Aura zu geben vermag? Wir sind überzeugt, dass diese Tendenz mit einer Sehnsucht nach Gegenständen der Erfahrung zu tun hat, welche Konzentration gleichsam erzwingt.

Entstanden ist sie wohl, weil elektronische Technologie in ihren institutionalisierten Anwendungsformen uns – erstens – mit einer Quantität des Wissens und der Informationen überschwemmt, die wie eine Bewegung ohne Anfang und Ende durch unsere Existenzen fliesst. Weder können sich die User vor der Sturzflut der Informationen schützen, noch vermögen sie, diese bestimmten Problemen oder Aufgaben zuzuordnen. Und – zweitens – vervielfältigen elektronische Instrumente unsere subjektiven Handlungs- und Wahlmöglichkeiten (ob bei der Planung des Wochenendes oder beim Kauf von Büchern), das heisst: Sie verdammen uns zu einer Freiheit und Verpflichtung des beständigen Urteilens und Entscheidens.

Diese beiden drastischen Veränderungen im Alltagsleben haben uns mehr denn je zu reinen Bewusstseinswesen gemacht – und überfordern uns beständig. Als Unterbrechung oder gar als Alternative bietet sich der neue Widerstand der Literatur an. Mit intellektueller Komplexität und vor allem mit materieller Konkretheit erzwingt er tatsächlich Zuwendung. Natürlich ist auch diese Form konzentrierter Lektüre eine Form der Überforderung, doch eine Form der Überforderung, welche Aufmerksamkeit vor allem über die Sinne anzieht und steigert, statt zu einem Selbstverlust in ausschliesslicher Bewusstseinsexistenz zu führen ... +

https://www.nzz.ch/feuilleton/lesen-als-akt-des-widerstands-die-neue-aura-der-literatur-ld.1527479



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