Reading high literature as an act of resistance in digital times

Mark Kohut mark.kohut at gmail.com
Mon Dec 16 13:04:12 UTC 2019


"A yearning for tangible experience which enforces concentration is
inducing this renaissance of passionate reading."

True for me and most like when I was young, hungering for experience.


On Mon, Dec 16, 2019 at 7:40 AM Kai Frederik Lorentzen <lorentzen at hotmail.de>
wrote:

>
> According to this article, students, "the best and the most passionate",
> are re-discovering the reading of difficult novels like "Finnegans Wake" or
> "Gravity's Rainbow"! As an act of resistance against digitalization & its
> discontents (like information overload or the constant constraints to judge
> & to choose). Focusing the concrete book in its materiality offers a
> concrete & sensual experience in a complex setting: "Secular
> contemplation". Which implies "l'art pour l'art" instead of professional
> instrumentalization. Complex literature doesn't force the reader to adopt
> certain ideological or political positions; the term "resistance" does not
> refer here to the - allegedly - 'critical societal function of literature'
> but to the immediate experience of the reader who is confronted with a text
> which doesn't allow an easy understanding. "The one who reads  - and not
> only casually or to bridge empty moments, but with a focus in terms of
> literary tradition - keeps open a sphere of freedom". A yearning for
> tangible experience which enforces concentration is inducing this
> renaissance of passionate reading. At least the professors - Joao Cezar de
> Castro Rocha (Rio de Janeiro) & Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford) - have
> observed this among their students. Maybe it's true ...
>
> + ... Mittlerweile jedoch lässt sich in ganz verschiedenen Kontexten
> beobachten, wie die besten und leidenschaftlichsten Studenten einer neuen
> Generation die Literatur wieder für sich entdecken.
>
> Im Gegensatz zu ihren Dozenten, denen mehr denn je daran liegt, eine
> nüchterne «Professionalität» an den Tag zu legen, stilisieren die jungen
> Lese-Enthusiasten ihr Verhalten, oft sogar ihr Aussehen gerne mit
> romantischen Attributen aus der Zeit der Flower-Power und kultivieren eine
> Nähe zu den lebendigen Szenen der literarischen Produktion. Dabei
> entwickeln sie helle Begeisterung gerade für
> jene Werke, welche die Professoren aus dem Horizont möglicher
> Lehrgegenstände ausgeschlossen hatten, weil es ihnen nicht gelingen wollte,
> deren formale und inhaltliche Komplexität in eindeutige Sinngestalten der
> moralischen und politischen Bildung überzuführen.
>
> Das «l’art pour l’art», also die «Literatur um ihrer selbst willen», steht
> so plötzlich wieder im Vordergrund. Und als unerträglich gilt mit einem Mal
> jeglicher Ansatz zu ihrer Instrumentalisierung.
>
> Kein Text wird in diesem Zusammenhang mit intensiverer Bewunderung genannt
> als James Joyce’ «Finnegans Wake», wo Wort für Wort die alltagssprachlichen
> Konventionen verfremdet und in ein neues, den Leser nicht nur auf den
> ersten Blick überwältigendes Idiom umgearbeitet werden. Ungeachtet der
> ungestümen Sympathien des Autors für den deutschen Nationalsozialismus
> faszinieren ähnlich die Prosarhythmen der Romane von Louis Ferdinand
> Céline, deren Handlungsstrukturen sich in der Komplexität ihrer oft
> mikroskopischen Beschreibungen verlieren. Oder die Heraufbeschwörung des
> brasilianischen Inlands in Joao Guimaraes Rosas Epos «Grande Sertao:
> Veredas» mittels einer Sprache, deren dialektalen Voraussetzungen
> nichtmuttersprachliche Leser kaum genügen können. Und schliesslich auch die
> Meisterromane des amerikanischen Autors Thomas Pynchon, vor allem
> «Gravity’s Rainbow», wo historische Details und technisches Wissen eine
> spannungsvoll undurchdringliche Verbindung eingehen.
>
> Wohl weil sie mit dem dominierenden Geschmack ihrer je eigenen Zeiten
> nicht synchronisiert waren, hat keiner dieser ganz grossen Autoren je den
> Nobelpreis für Literatur gewonnen. Doch immerhin ehrte das zuständige
> Komitee vor wenigen Monaten mit Peter Handkes Arbeit den
> Entwicklungsprozess einer literarischen Sprache, die ebenfalls zur
> Überforderungstradition der Moderne gehört.
>
> Für den Versuch, die bestimmende Modalität der fast plötzlich vollzogenen
> Rückkehr zu Texten mit Literatur-immanenten Ambitionen zu beschreiben,
> schlagen wir den Begriff «Widerstand» vor. Er nimmt in diesem Kontext eine
> Bedeutung an, die sich gegenüber der einst von Adorno unterstellten
> drastisch verschoben hat. «Widerstand» leisten die Texte nun nicht mehr im
> Sinn einer kritischen Funktion, die sie in der Gesellschaft erfüllen
> sollen; vielmehr bezieht sich das Konzept jetzt auf das unmittelbare
> Erleben des Lesers. Wer liest – und zwar nicht nur gelegentlich oder zur
> Überbrückung leerer Momente, sondern mit einem Fokus im Sinne der
> literarischen Tradition –, hält sich einen Freiheitsraum offen, den ihm
> niemand streitig machen kann.
>
> Denn statt die Texte von der vermeintlich höheren Ebene des Bewusstseins
> aus zu rezipieren und womöglich über sie zu verfügen, steht ihnen der Leser
> nun in der einen Wirklichkeit gegenüber, zu der sowohl ihre Materialität
> als auch sein eigener Körper gehören, und diese Welt der Körper wie der
> Textmaterialität ist eine gegenüber ihrem Aussen geschlossene Welt. Hier
> spürt der Leser den intellektuellen Widerstand der sprachlichen
> Einzigartigkeit literarischer Texte (zum Beispiel den Widerstand der
> Bedeutungsdimensionen oder der Syntax von Friedrich Hölderlins
> «Rheinhymne») gegenüber allen individuellen Aneignungsbemühungen und
> zugleich den Widerstand ihrer dreidimensionalen Konkretheit (etwa der
> Versformen oder der Rhythmen im Vortrag des Gedichts).
>
> Am besten beleuchtet die neue Modalität des «Widerstands» von Literatur
> wohl der Gebrauch desselben Worts unter Physikern und Spezialisten für
> elektrische Systeme. Dort steht es für strukturelle und materielle
> Bedingungen, die sich dem Fluss des Stroms entgegensetzen. Mit Widerstand
> in diesem Sinn als Vorzeichen erscheinen etwa poetische Formen nun als eine
> Dimension, die das Verstehen weiter erschwert, statt Bedeutungsstrukturen
> klärend nachzuvollziehen oder gar zu unterstreichen, wie man mit dem
> berühmtem Gymnasiumssatz unterstellte, dass die Formen der Lyrik immer
> ihrem Inhalt entsprechen.
>
> Wie kann man aber erklären, dass ein solches Leser-Erleben permanenter
> Bemühung, die kaum je an ein Ziel oder zu einer Lösung gelangt, der
> Literatur als Ersatz ihres verlorenen Glanzes eine neue Aura zu geben
> vermag? Wir sind überzeugt, dass diese Tendenz mit einer Sehnsucht nach
> Gegenständen der Erfahrung zu tun hat, welche Konzentration gleichsam
> erzwingt.
>
> Entstanden ist sie wohl, weil elektronische Technologie in ihren
> institutionalisierten Anwendungsformen uns – erstens – mit einer Quantität
> des Wissens und der Informationen überschwemmt, die wie eine Bewegung ohne
> Anfang und Ende durch unsere Existenzen fliesst. Weder können sich die User
> vor der Sturzflut der Informationen schützen, noch vermögen sie, diese
> bestimmten Problemen oder Aufgaben zuzuordnen. Und – zweitens –
> vervielfältigen elektronische Instrumente unsere subjektiven Handlungs- und
> Wahlmöglichkeiten (ob bei der Planung des Wochenendes oder beim Kauf von
> Büchern), das heisst: Sie verdammen uns zu einer Freiheit und Verpflichtung
> des beständigen Urteilens und Entscheidens.
>
> Diese beiden drastischen Veränderungen im Alltagsleben haben uns mehr denn
> je zu reinen Bewusstseinswesen gemacht – und überfordern uns beständig. Als
> Unterbrechung oder gar als Alternative bietet sich der neue Widerstand der
> Literatur an. Mit intellektueller Komplexität und vor allem mit materieller
> Konkretheit erzwingt er tatsächlich Zuwendung. Natürlich ist auch diese
> Form konzentrierter Lektüre eine Form der Überforderung, doch eine Form der
> Überforderung, welche Aufmerksamkeit vor allem über die Sinne anzieht und
> steigert, statt zu einem Selbstverlust in ausschliesslicher
> Bewusstseinsexistenz zu führen ... +
>
>
> https://www.nzz.ch/feuilleton/lesen-als-akt-des-widerstands-die-neue-aura-der-literatur-ld.1527479
>
> --
> Pynchon-L: https://waste.org/mailman/listinfo/pynchon-l
>


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