The reigning champion (Re: Gerald Howard on Delillo's Nobel)

Kai Frederik Lorentzen lorentzen at hotmail.de
Thu Apr 2 11:12:58 UTC 2020


Nein. Peter Handke was a very good choice!

 From Versuch über die Müdigkeit (1989):

"Vor mehr als zehn Jahren nahm ich ein Nachtflugzeug von Anchorage in 
Alaska nach New York. Es war ein sehr langwieriger Flug, mit dem Start, 
lang nach Mitternacht, von der Stadt am Cook Inlet - in den bei Flut die 
Eisschollen hochaufgerichtet hinein-, aus dem sie bei Ebbe dann, 
schwarzgrau geworden, wieder hinaus in den Ozean galoppierten -, einer 
Zwischenlandung im ersten Morgengrauen bei Schneetreiben in 
Edmonton/Kanada, einer weiteren Zwischenlandung, mit Kreisen in der 
Warteschleife, dann Anstehen unten auf der Piste, in der grellen 
Vormittagssonne von Chicago, der Landung am stickigen Nachmittag weit 
draußen vor New York. Endlich im Hotel, wollte ich mich sofort 
schlafenlegen, wie krank - von der Welt abgeschnitten - nach der Nacht 
ohne Schlaf, Luft und Bewegung. Aber dann sah ich unten die Straßen am 
Central Park weit von der Frühherbstsonne, in der, wie mir vorkam, 
festtäglich die Leute sich ergingen, und im Gefühl, im Zimmer jetzt 
etwas zu versäumen, zog es mich hinaus zu ihnen. Ich setzte mich auf 
eine Caféterrasse in die Sonne, nah am Getöse und an den Benzinschwaden, 
noch immer benommen, ja im Innern in ein beängstigendes Wanken gebracht 
von meiner Übernächtigkeit. Doch dann, ich weiß nicht mehr wie, 
allmählich?, oder wieder Ruck um Ruck? die Verwandlung. Ich habe einmal 
gelesen, Schwermütige könnten ihre Krisen überbrücken, indem sie über 
Nächte und Nächte am Schlafen gehindert würden; die in ein gefährliches 
Schwanken geratene 'Hängebrücke ihres Ich' würde dadurch stabil. Jenes 
Bild hatte ich vor mir, als nun in mir die Bedrängnis der Müdigkeit 
Platz machte. Diese Müdigkeit hatte etwas von einem Gesundwerden. Sagte 
man nicht: 'Mit der Müdigkeit kämpfen'? - Dieser Zweikampf war zuende. 
Die Müdigkeit war jetzt mein Freund. Ich war wieder da, in der Welt, und 
sogar - nicht etwa, weil es Manhattan war - in ihrer Mitte. Aber es kam 
dann noch einiges dazu, vieles, und eins eine größere Lieblichkeit als 
das andere. Ich tat, weit bis in den Abend hinein, nichts mehr als 
sitzen und schauen; es war, als bräuchte ich dabei auch nicht einmal 
atemzuholen. Keine auffälligen wichtigtuerischen Atemübungen oder 
Yoga-Haltungen: Du sitzt und atmest im Licht der Müdigkeit jetzt 
beiläufig richtig. Es gingen ständig viele, auf einmal unerhört schöne 
Frauen vorbei - eine Schönheit, die mir zwischendurch die Augen naß 
machte -, und sie alle nahmen mich im Vorbeigehen auf: Ich kam in Frage. 
(Eigenartig, daß vor allem die schönen Frauen diesen Blick der Müdigkeit 
beachteten, so wie auch noch manch alte Männer und die Kinder.) Aber 
keine Idee, daß wir, eine von ihnen und ich, darüber hinaus miteinander 
etwas anfingen; ich wollte nichts von ihnen, es genügte mir, ihnen 
endlich einmal so zuschauen zu können. Und es war auch wirklich der 
Blick eines guten Zuschauers, bei einem Spiel, das erst glücken kann, 
wenn wenigstens ein solcher Zuschauer dabeisitzt. Das Schauen dieses 
Müden war eine Tätigkeit, es tat etwas, es griff ein: die Akteure des 
Spiels wurden besser durch es, noch schöner - zum Beispiel, indem sie 
sich vor solchen Augen mehr Zeit ließen. Dieser langsame Lidschlag ließ 
sie gelten - brachte sie zu ihrer Geltung. Dem dergestalt Schauenden 
wurde von der Müdigkeit seinerseits das Ich-Selbst, das ewig Unruhe 
stiftende, wie durch ein Wunder von ihm weggenommen: alle sonstigen 
Verzerrungen, Angewohnheiten, Ticks und Sorgenfalten von ihm abgefallen, 
nichts mehr als die gelösten Augen, endlich auch so unergründlich wie 
die Robert Mitchums. Und dann: das selbstlose Schauen wurde tätig weit 
über die schönen Passantinnen hinaus, bezog ein in sein Zentrum der Welt 
alles, was lebte und sich regte. Die Müdigkeit gliederte - ein Gliedern, 
das nicht zerstückelte, sondern kenntlich machte - das übliche Gewirr 
durch sie rhythmisiert zur Wohltat der Form - Form, soweit das Auge 
reichte - großer Horizont der Müdigkeit."

https://handkeonline.onb.ac.at/node/1518

Am 01.04.20 um 18:31 schrieb rich:
> ... but man was Peter Handke a terrible choice ...



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