Ein Meer von Spekulationen
Otto
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Sat Nov 7 09:58:02 CST 2009
Tunguska-Katastrophe: Ein Meer von Spekulationen
Von Ulrich Baron, 30. Juni 2008, DIE WELT
Todesstrahlen, Supernovas, überlastete Triebwerke eines Ufos: Die
gewaltige Explosion im Sibirischen Tunguska ist auch 100 Jahre danach
noch mysteriös, weil sich ihre gewaltige Wirkung keiner überzeugende
Ursache zuschreiben lässt. Manch einer macht übernatürlichen Ursachen
verantwortlich.
Als der dritte Engel posaunte, fiel ein großer Stern vom Himmel. Der
traf nicht das sibirische Tunguska, sondern fiel „auf den dritten Teil
der Wasserströme“. Der Name dieses Sterns, so die „Offenbarung“ des
Johannes, sei „Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut, und
viele Menschen starben von den Wassern, denn sie waren bitter
geworden.“
Was den mörderischen Stern mit dem Verursacher des
Tunguska-Ereignisses von 1908 verbindet, ist der Umstand, dass sich
beide aufgelöst haben: Der eine im Wasser, der andere in einen Meer
von Spekulationen. Daraus schöpfte schon 1951 Stanislaw Lem in seinem
Roman „Die Astronauten“. In Vladimir Sorokins „Ljod“ (2002; deutsch
„Das Eis“) spielt Tunguska eine zentrale Rolle, und auch Thomas
Pynchon griff 2007 in seinem Monumentalwerk „Against the Day“ auf die
sibirische Katastrophe zurück, die man auch mit verheerenden
„Todesstrahlen“ in Verbindung gebracht hatte, an denen der geniale
Wissenschaftler Nikola Tesla damals gearbeitet haben sollte. Nicht
mehr rechtzeitig zum 100. Jahrestag hat der Rütten & Loening Verlag
Martina Andrés Roman „Schamanenfeuer. Das Geheimnis von Tunguska“ für
den 26. September angekündigt.
Über die Folgen von Meteoreinschlägen haben sich 1977 die
Science-Fiction-Autoren Larry Niven und Jerry Pournelle in ihrem Roman
„Luzifers Hammer“ Gedanken gemacht. 1998 kamen mit Mimi Leders „Deep
Impact“ und Michael Bays „Armageddon“ gleich zwei Filme in die Kinos,
in denen es darum ging, die Menschheit vor einem drohenden Einschlag
zu retten. Ähnliches hatte das deutsche Puschenkino schon 1966 in der
zweiten Episode von „Raumschiff Orion“ präsentiert, die unter dem
Titel „Planet außer Kurs“ sogar eine ganze Supernova aufbot.
Am Ende aber war immer alles halbwegs glimpflich verlaufen, und anders
als die schockierten Sibiriaken 1908 hatten die Film- und Romanhelden
schon bald begriffen, was da auf sie zukam. Tunguska aber blieb
mysteriös, weil sich der gewaltigen Wirkung keine überzeugende Ursache
zuschreiben ließ.
So lange sich aber ein Vorgang von solchen Dimensionen nicht auf
natürliche Weise erklären lässt, wird nach übernatürlichen Erklärungen
gesucht. Gegen die Variante vom Gottesgericht sprach, dass der
himmlische Hammerschlag ein menschenleeres Gebiet getroffen hatte.
Stanislaw Lem präsentierte mit „Die Astronauten“ eine zweite
übernatürliche Variante, nach der in Tunguska ein extraterrestrische
Raumschiff abgestürzt war, dessen überlastete Triebwerke für die
seltsamen Muster verantwortlich waren, die die verbrannten Wälder dort
aufwiesen. Das war der Auftakt zur Geschichte zweier Welten, von denen
sich die eine bei dem Versuch, die Menschheit zu vernichten, selbst
das Lebenslicht ausblies – mahnende Parabel auf den Kalten Krieg.
Gottesstrafen oder Angriffe von Außerirdischen setzen voraus, dass uns
Menschen eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Eine weniger
schmeichelhafte Variante präsentierten daher die Brüder Arkadi und
Boris Strugatzki 1972 in „Picknick am Wegesrand“. Dort hat eine
Superzivilisation Zonen der Verwüstung hinterlassen, voller
wunderbarer und gefährlicher Dinge. Um uns haben sich die
Extraterrestrier so wenig gekümmert wie wir Menschen uns bei einem
Picknick um die Ameisen kümmern, denen wir Feuerstellen, Krümel und
Fischdosen hinterlassen, deren Inneres schnell zur tödlichen Falle
werden kann. Schon wegen unseres Selbstwertgefühls sollten wir also
hoffen, dass uns 1908 nur ein Steinbrocken von sehr geringem Verstand
in die Quere gekommen ist.
http://www.welt.de/wissenschaft/article2162373/Ein_Meer_von_Spekulationen.html
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