R.I.P. Fritz Stern
Kai Frederik Lorentzen
lorentzen at hotmail.de
Thu May 19 03:38:08 CDT 2016
> “I was born into a world on the cusp of avoidable disaster,” he wrote
in “Five Germanys.” He added, “The fragility of freedom is the simplest
and deepest lesson of my life and work.” <
http://www.nytimes.com/2016/05/19/books/fritz-stern-a-leading-historian-on-modern-germany-dies-at-90.html
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> Fritz Stern war 73 Jahre alt, als er 1999 den Friedenspreis des
deutschen Buchhandels entgegennahm. In seiner Dankesrede legte der
Historiker ein erstaunliches Bekenntnis ab: Um seine Lebensarbeit der
deutschen Geschichte zu widmen, habe er eine Art Entnazifizierung
durchmachen müssen. Er musste „die Überzeugung gewinnen, dass deutsche
Geschichte nicht aus der Perspektive von 1945 allein beurteilt werden
kann“ ...
... Zu Henning Ritter, dem 2013 verstorbenen Gründungsredakteur der
geisteswissenschaftlichen Beilage dieser Zeitung, sagte Stern 1987, es
gebe nicht nur materielle Interessen, sondern auch psychische. „Die
einen sind meist klarer als die anderen - verschwiegen werden oft
beide.“ Historische Aufklärung blieb für Stern Selbstaufklärung. Er
schrieb Memoiren und legte sie als Porträt des Landes an, das seine
Familie vertrieben hatte, allerdings als Vexierbild, mit dem Landesnamen
in einem Plural, den die deutsche Übersetzung nicht gut übernehmen
konnte: „Five Germanies I Have Known“ ...
... Wie weit der Historiker gehen kann im Vergleichen, das heißt: im
provisorischen Übereinanderlegen modellhafter Konstellationen, zeigt
Fritz Sterns so kühnes wie beiläufiges Wort, er sei erst durch so etwas
wie eine Entnazifizierung zum Historiker geworden. Die
Entnazifizierungspolitik der Besatzungsmächte wollte unter den politisch
mündigen Deutschen die aktiven Nazis aussortieren, die Täter aus
Überzeugung. Sterns Einsicht, dass aus der Erfahrung der totalen
Zerstörung der eigenen Welt eine Überschätzung der Macht der
zerstörenden Kräfte erwachsen konnte, bezeichnet auf den ersten Blick
ein Phänomen reiner Passivität, eine Prägung im existentiellen Sinne.
Aber wenn das bürokratische Programm der Entnazifizierung an einem
naiven Begriff von innengeleiteter Aktivität gescheitert ist, so wollte
Stern wohl umgekehrt andeuten, dass die Einseitigkeiten der auf
Opferseite entwickelten Erklärungen nicht als pathologisch abgetan
werden können. Intellektuelle Energie ging in sie ein, die sie zu
Gegenständen von Kritik und Selbstkritik machte.
Der Historiker und Schriftsteller Per Leo hat kürzlich im „Merkur“ mit
Blick auf die jüngste Heidegger-Debatte vorgeschlagen, mit dem Begriff
des Nationalsozialismus nicht mehr ein ideologisches Programm zu
verbinden, sondern die Gesamtheit der durch Hitlers Machtübernahme
gegebenen epochalen Bedingungen, denen sich alle Deutschen, die nicht
Opfer wurden, durch Bewirtschaften des eigenen Ideenvorrats anpassen
konnten. Den Begriff so weit zu fassen, dass auch ein Fritz Stern den
als Epochenerfahrungshorizont verstandenen Nationalsozialismus
überwinden musste, um über Einstein und Adenauer zu schreiben, und diese
Selbstüberwindung dann auf die Formel der Entnazifizierung zu bringen,
ist eine Volte, die eines Heine würdig ist. Im deutschen politischen
Bewusstsein gilt das alliierte Projekt der Entnazifizierung allgemein
als gescheitert. Indem Stern das Wort in die eigene Biographie
einschmuggelte, gab er als patriotischer Bürger der Vereinigten Staaten
vielleicht auch zu bedenken, dass der Gemeinplatz revisionsbedürftig
sein könnte.
Warnung vor politischer Religiosität
Im New Yorker Leo-Baeck-Institut zitierte Stern 2005 aus einem Brief,
den ihm Carl Friedrich von Weizsäcker zwei Jahrzehnte vorher geschrieben
hatte. Der Physiker bekannte, er habe nie an die Nazi-Ideologie
geglaubt, sich aber von der Bewegung verführen lassen, die ihm wie „eine
Ausgießung des Heiligen Geistes“ erschienen sei. Im Rückblick meine er,
der Nationalsozialismus sei Teil eines Prozesses gewesen, den die Nazis
selbst nicht verstanden hätten. Das sind gängige Figuren der
Distanzierung, wie Per Leo sie analysiert. Gleichwohl gab Stern von
Weizsäcker recht: „Die Nazis haben nicht begriffen, dass sie Teil eines
historischen Prozesses waren, in dem das Ressentiment gegen die
Entzauberung der Welt Zuflucht in Ekstasen der Unvernunft fand.“
Fritz Stern bewunderte die deutsche Vergangenheitsbewältigung, aber er
sah mit Unbehagen, dass in ihren Formen eine politische Religiosität
wiederkehrte, die mit seinem amerikanischen Liberalismus nicht vereinbar
war. Warum kamen die Lichterketten ohne Reden aus? Wer sich engagiert,
muss das Wort ergreifen. Mit Genugtuung sah Stern die publizistische
Alterskarriere Helmut Schmidts. Und noch vor wenigen Tagen hat er sich
gegen den europäischen Asylhandel mit der Türkei geäußert. Nun ist er
verstummt ... <
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/fritz-stern-zum-tod-des-historikers-und-grossen-liberalen-14240231.html
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